Der Dunkle Turm 2 - Drei
Einzelkind) getauft worden war. Sie wußte, ihr Vater war Kleinstadtzahnarzt gewesen, der einen Verkronungsprozeß erfunden hatte und sich patentieren ließ, welcher zehn Jahre lang schlafend und unbeachtet lag, bis er ihn plötzlich zu einem bescheiden reichen Mann gemacht hatte. Sie wußte, er hatte in den zehn Jahren vor und den vier Jahren nach dem finanziellen Erfolg noch eine Reihe weiterer zahntechnischer Prozesse entwickelt, von denen die meisten orthodontischer oder kosmetischer Natur waren, und er hatte, kurz bevor er mit seiner Frau und seiner Tochter (die vier Jahre nach Anmeldung des ersten Patents zur Welt gekommen war) nach New York gezogen war, eine Firma mit dem Namen Holmes Dental Industries gegründet, die heute für Zähne das war, was Squibb für Antibiotika war.
Aber wenn sie ihn fragte, wie das Leben in den Jahren dazwischen gewesen war – den Jahren, als sie nicht da gewesen war, und den Jahren, als sie da war –, wollte ihr Vater ihr nichts erzählen. Er sagte alle möglichen Sachen, aber er erzählte nichts. Diesen Teil seiner selbst verschloß er vor ihr. Einmal hatte ihre Mutter, Alice – er nannte sie Ma oder manchmal Alice, wenn er ein paar getrunken hatte oder sich gut fühlte –, gesagt: »Erzähl ihr davon, wie diese Männer auf dich geschossen haben, als du mit dem Ford über die gesperrte Brücke gefahren bist, Dan«, und er bedachte Odettas Ma mit einem so dunklen und gebieterischen Blick, daß ihre Ma, die immer eine Art Sperling gewesen war, sich in den Sessel verkrochen und nichts mehr gesagt hatte.
Nach diesem Abend hatte Odetta es ein- oder zweimal allein bei ihrer Mutter versucht, aber ohne Ergebnis. Hätte sie es vorher versucht, hätte sie vielleicht etwas herausbekommen, aber da er nichts preisgeben wollte, gab sie auch nichts preis. Und ihr wurde klar, für ihn war die Vergangenheit – die Verwandten, die roten Staubstraßen, die Geschäfte, die schmutzigen einstöckigen Hütten ohne Fensterglas und ohne den Schmuck auch nur eines einzigen Vorhangs, die Zwischenfälle des Leids und der Erniedrigung, die Nachbarkinder, die Kleider trugen, welche ihr Leben als Mehlsäcke angefangen hatten – begraben wie ein toter Zahn unter einer makellosen, blendend weißen Krone. Er wollte nichts erzählen, konnte es vielleicht nicht, hatte sich vielleicht selbst partieller Amnesie ausgesetzt; die Zahnkronen waren ihr Leben in den Greymarl Apartments an der Central Park South. Alles andere war unter dieser undurchdringlichen äußeren Hülle begraben. Seine Vergangenheit war so gut geschützt, daß es keine Lücke gab, durch die man zu ihr vordringen konnte, es gab keinen Weg durch das perfekt verkronte Gebiet in den Hals der Enthüllung.
Detta wußte verschiedene Dinge, aber Detta kannte Odetta nicht, und Odetta kannte Detta nicht, und daher waren die Zähne auch da so fest versiegelt wie mit einer Krone.
Sie hatte etwas von der Schüchternheit ihrer Mutter und von der unerschrockenen (wenn auch unausgesprochenen) Härte ihres Vaters, und eines Nachts in seiner Bibliothek hatte sie es gewagt, ihn weiter mit dem Thema zu bedrängen; sie hatte ihm gesagt, was er ihr vorenthielt, sei ein verdientes Treuhandvermögen, das ihr nie versprochen worden war und offensichtlich auch niemals zufallen sollte. Er hatte sein Wall Street Journal sorgfältig ausgeschüttelt, zugeklappt, zusammengelegt und auf das Tischchen neben der Stehlampe gelegt. Er hatte die randlose Stahlbrille abgezogen und auf die Zeitung gelegt. Dann hatte er sie angesehen, ein magerer schwarzer Mann, fast bis zur Ausgezehrtheit mager, dessen straff gekämmtes graues Haar zunehmend von den Höhlen seiner Schläfen zurückwich, wo zarte Uhrfedern von Äderchen unablässig pulsierten, und er hatte nur gesagt: Ich spreche nicht über diesen Abschnitt meines Lebens, Odetta, ich denke nicht einmal daran. Es wäre sinnlos. Die Welt hat sich seitdem weitergedreht.
Roland hätte das verstanden.
7
Als Roland die Tür mit der Aufschrift DIE HERRIN DER SCHATTEN aufmachte, sah er Dinge, die er überhaupt nicht verstand aber er begriff, daß sie nicht wichtig waren.
Es war Eddie Deans Welt, aber darüber hinaus bestand sie nur aus verwirrenden Lichtern, Menschen und Gegenständen – mehr Gegenständen, als er in seinem Leben je gesehen hatte. Frauensachen, wie es aussah, und offenbar zu verkaufen. Einige unter Glas, andere zu verlockenden Bergen und Auslagen hergerichtet. Das spielte jedoch ebensowenig eine Rolle
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