Der Dunkle Turm 3 - Tot
eigene Schönheit und Erhabenheit, aber sie machte einen durch und durch wirklichen Eindruck. Diese Erinnerungen an jene Augenblicke, ehe er ohnmächtig geworden war, schienen wie Fotos zu sein, die am schönsten Tag seines Lebens aufgenommen worden waren. Man kann sich daran erinnern, wie dieser Tag gewesen ist – so in etwa jedenfalls –, aber die Bilder sind zweidimensional und fast kraftlos.
Jake sah sich auf dem verlassenen Grundstück um, über das sich die violetten Schatten des Spätnachmittags senkten, und dachte: Ich will dich wiederhaben. Herrgott, ich will dich so wiederhaben, wie du warst.
Dann sah er die Rose, die in der Nähe der Stelle, wo er gestürzt war, aus einem Büschel purpurnen Grases wuchs. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jake stolperte darauf zu und achtete nicht auf die pochenden Schmerzen, die bei jedem Schritt von seinem Knöchel das Bein hinaufschossen. Er sank wie ein Betender vor einem Altar vor ihr nieder. Er beugte sich mit aufgerissenen Augen darüber.
Es ist nur eine Rose. Doch nur eine Rose. Und das Gras…
Das Gras war doch nicht purpurn, sah er jetzt. Auf den Halmen waren purpurne Spritzer, ja, aber die Farbe darunter war ein ganz normales Grün. Er sah sich etwas weiter um und erblickte blaue Spritzer auf einem anderen Grasbüschel. Rechts von ihm trug eine treibende Klette rote und gelbe Spuren. Und hinter den Kletten lag ein Stapel leerer Farbeimer. Glidden-Deckfarbe Seidenmatt, stand auf den Etiketten.
Das ist alles. Nur Farbspritzer. Aber weil du total durcheinander im Kopf warst, hast du gedacht, du hättest gesehen…
Das war dummes Zeug.
Er wußte, was er vorhin gesehen hatte und was er jetzt sah. »Tarnung«, flüsterte er. »Es war alles da. Alles. Und… es ist noch da.«
Sein Kopf klärte sich langsam, und nun konnte er wieder die stete, harmonische Kraft spüren, welche diesem Ort eigen war. Der Chor war immer noch da, seine Stimmen immer noch harmonisch, aber nun schwach und fern. Er betrachtete einen Haufen von Backsteinen und alten Verputztrümmern und sah ein kaum kenntliches Gesicht, das sich darin verbarg. Es war das Gesicht einer Frau mit einer Narbe auf der Stirn.
»Allie?« murmelte Jake. »Ist dein Name nicht Allie?«
Er bekam keine Antwort. Das Gesicht war fort. Er sah wieder nur einen häßlichen Haufen Verputz und Backsteine vor sich.
Er betrachtete wieder die Rose. Sie hatte, sah er jetzt, nicht die dunkelrote Farbe, welche im Herzen eines glühenden Brennofens haust, sondern eine staubige, fleckige Rosatönung. Sie war wunderschön, aber nicht perfekt. Einige Blütenblätter waren nach außen gerollt; die äußeren Ränder dieser Blätter waren braun und abgestorben. Es handelte sich nicht um eine kultivierte Blume, wie er sie in Blumengeschäften gesehen hatte; er vermutete, es war eine wilde Rose.
»Du bist wunderschön«, sagte er und streckte die Hand aus.
Obwohl kein Wind wehte, neigte sich die Rose ihm entgegen. Nur einen Augenblick berührte er mit den Fingerkuppen ihre Oberfläche, die glatt und wie Samt und auf erstaunliche Weise lebendig war, und schon schienen die Stimmen des Chors um ihn herum anzuschwellen.
»Bist du krank, Rose?«
Er bekam selbstverständlich keine Antwort. Als seine Finger von der verblaßten rosa Schale der Rosenblüte abließen, wippte diese in ihre ursprüngliche Haltung zurück, wo sie in vergessener Pracht inmitten von farbverspritztem Unkraut wuchs.
Blühen Rosen um diese Jahreszeit? fragte sich Jake. Wilde Rosen? Und warum wächst eine wilde Rose überhaupt auf einem brachliegenden Grundstück? Und wenn eine blüht, warum dann nicht mehr?
Er blieb noch ein Weilchen auf Händen und Knien, dann wurde ihm klar, er konnte den Rest des Nachmittags (möglicherweise seines ganzen Lebens) hierbleiben und die Rose bewundern, ohne deren Geheimnis zu ergründen. Er hatte sie einen Augenblick im Urzustand gesehen, so wie alles andere in dieser vergessenen, abfallübersäten Ecke der Stadt; er hatte sie ohne Maske und mit abgelegter Tarnung gesehen. So wollte er sie wiedersehen, aber der Wunsch allein reichte nicht aus, sie dazu zu bewegen.
Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen.
Er sah die beiden Bücher, die er im Manhattan-Restaurant für geistige Nahrung gekauft hatte, in der Nähe liegen. Als er sie aufhob, fiel ein glänzender silberner Gegenstand zwischen den Seiten von Charlie Tschuff-Tschuff heraus in ein dichtes Fleckchen Unkraut. Jake bückte sich, wobei er den verstauchten Knöchel entlastete,
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