Der Dunkle Turm 3 - Tot
müde. Wenn ihr morgen früh darüber reden wollt, okay. Vielleicht blicken wir dann alle ein bißchen besser durch. Aber im Augenblick habe ich nichts zu sagen.«
Sein Vater kam einen Schritt hinter ihm her und streckte die Hand aus.
»Nein, Elmer!« kreischte Jakes Mutter fast.
Chambers achtete nicht auf sie. Er packte Jake am Kragen des Blazers. »Lauf mir nicht einfach so dav…«, begann er, und dann wirbelte Jake herum und riß ihm den Blazer aus der Hand. Der Saum unter dem rechten Arm, der ohnehin schon angegriffen war, riß mit einem schnurren-; den Laut.
Sein Vater sah die blitzenden Augen und wich zurück. Die Wut in seinem Gesicht wurde von etwas ertränkt, das Angst gleichkam. Das Blitzen war nicht sinnbildlich; Jakes Augen schienen tatsächlich in Flammen zu stehen. Seine Mutter ließ einen kraftlosen, kurzen Aufschrei vernehmen, schlug eine Hand vor den Mund, wankte zwei große, stolpernde Schritte zurück und ließ sich mit einem leisen Plumpsen auf ihren Schaukelstuhl fallen.
»Laß… mich… in… Ruhe«, sagte Jake.
»Was ist nur mit dir passiert?« fragte sein Vater, und jetzt war sein Tonfall fast unterwürfig. »Verdammt, was ist bloß mit dir passiert? Du haust ohne ein Wort zu sagen am ersten Examenstag aus der Schule ab, kommst von Kopf bis Fuß schmutzig zurück und benimmst dich, als hättest du den Verstand verloren.«
Na also – da war es – benimmst dich, als hättest du den Verstand verloren. Wovor ihm graute, seit die Stimmen vor drei Wochen angefangen hatten. Der GEFÜRCHTETE VORWURF. Aber jetzt, wo er ausgesprochen worden war, fürchtete sich Jake fast gar nicht mehr davor, was möglicherweise daran lag, daß er selbst das Thema im Geiste schon abgehakt hatte. Ja, etwas war mit ihm passiert. Passierte noch. Aber: Nein – er hatte nicht den Verstand verloren. Jedenfalls noch nicht.
»Wir unterhalten uns morgen früh darüber«, wiederholte er. Er ging durch das Eßzimmer, und diesmal hielt sein Vater ihn nicht auf. Er war fast in der Diele, als ihn seine Mutter mit besorgter Stimme ansprach: »Johnny… ist wirklich alles in Ordnung?«
Und was sollte er antworten? Ja? Nein? Beides? Keines von beiden? Aber die Stimmen waren verstummt, und das war immerhin etwas. Das war sogar eine ganze Menge.
»Es geht mir schon besser«, sagte er schließlich. Er ging in sein Zimmer und schlug die Tür fest hinter sich zu. Das Geräusch der Tür, die sich zwischen ihn und den Rest der großen, weiten Welt schob, erfüllte ihn mit einer grenzenlosen Erleichterung.
20
Er blieb noch eine Weile an der Tür stehen und horchte. Die Stimme seiner Mutter war nur ein Murmeln, die seines Vaters ein wenig lauter.
Seine Mutter sagte etwas über Blut und einen Arzt.
Sein Vater sagte, mit dem Jungen wäre alles in Ordnung; nur der Unflat, den der Bengel von sich gab, der war nicht in Ordnung, aber das würde er schon hinkriegen.
Seine Mutter sagte etwas von sich beruhigen.
Sein Vater sagte, er wäre ruhig.
Seine Mutter sagte…
Er sagte, sie sagte, bla, bla, bla. Jake hatte sie immer noch gerne – er war sich jedenfalls hinreichend sicher –, aber inzwischen war vieles geschehen, und das alles machte erforderlich, daß noch mehr geschah.
Warum? Weil etwas mit der Rose nicht stimmte. Und vielleicht weil er spielen wollte… und seine Augen wiedersehen, die so blau waren wie der Himmel über dem Rasthaus.
Jake ging langsam zu seinem Schreibtisch und zog dabei den Blazer aus. Der war ziemlich mitgenommen, ein Ärmel fast ganz abgerissen, das Futter hing wie ein schlaffes Segel heraus. Er warf ihn über die Stuhllehne, dann setzte er sich und legte die Bücher auf den Schreibtisch. In den letzten eineinhalb Wochen hatte er ziemlich schlecht geschlafen, aber er dachte, daß er heute nacht ausgezeichnet schlafen würde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal so müde gewesen war. Wenn er morgen früh aufwachte, würde er vielleicht wissen, was zu tun war.
Es klopfte leise an der Tür, und Jake wandte sich resigniert in diese Richtung.
»Ich bin es, John. Mrs. Shaw. Darf ich einen Moment reinkommen?«
Er lächelte. Mrs. Shaw – logisch. Seine Eltern hatten sie als Mittelsmann verpflichtet. Oder vielleicht war Übersetzer ein besseres Wort.
Gehen Sie zu ihm, hatte seine Mutter sicher gesagt. Ihnen wird er erzählen, was ihn plagt. Ich bin seine Mutter, und dieser Mann mit den blutunterlaufenen Augen und der laufenden Nase ist sein Vater, und Sie sind nur die
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