Der Dunkle Turm 3 - Tot
ist alles da. Alles. Es ist alles noch da.
Das Unkraut streifte an seiner Hose; Kletten blieben an seinen Socken haften. Der Wind wehte ihm eine Ring-Ding-Packung vor die Füße; die Sonne fiel darauf, und einen Augenblick war das Papier von einem wunderschönen, schrecklichen inneren Leuchten erfüllt.
»Es ist alles noch da«, wiederholte er bei sich und merkte nicht, wie sein Gesicht ebenfalls ein inneres Leuchten annahm. »Alles.«
Er hörte ein Geräusch – hatte es tatsächlich schon gehört, seit er das Grundstück betreten hatte. Es war ein wunderbares, hohes Summen, unsagbar einsam und unsagbar schön. Es hätte sich um das Heulen von Wind in einer Wüste handeln können, aber es war lebendig. Es war, dachte er, das Geräusch von tausend Stimmen, die einen gewaltigen offenen Akkord sangen. Er sah nach unten und stellte fest, daß sich Gesichter in dem verfilzten Unkraut, den Büschen und den Steinhaufen verbargen – Gesichter.
»Was bist du?« flüsterte Jake. » Wer bist du?« Er bekam keine Antwort, schien aber unter dem Chor die Laute von Hufen auf staubigem Boden, von Gewehrschüssen und von Engeln zu hören, die im Schatten Hosianna sangen. Die Gesichter in den Trümmern schienen sich zu drehen, wenn er vorbeiging. Sie folgten seinem Vorankommen, bargen aber keinerlei böse Absichten. Er konnte die Forty-sixth Street und den Rand des UN-Gebäudes auf der anderen Seite der First Avenue sehen, aber das Gebäude war nicht wichtig – New York war nicht wichtig. Es war so blaß wie Fensterglas geworden.
Das Summen wurde lauter. Jetzt waren es nicht tausend Stimmen, sondern eine Million, ein offener Luftschacht der Stimmen, die aus dem tiefsten Brunnen des Universums zu erklingen schienen. Er bekam Namen in dieser Gruppenstimme mit, vermochte aber nicht zu sagen, welche es waren. Einer hätte Marten lauten können. Einer Cuthbert. Ein anderer wiederum Roland – Roland von Gilead.
Es waren Namen; es war ein Murmeln von Worten, bei denen es sich um tausend ineinander verwobene Geschichten handeln konnte; aber über allem erklang das erhabene, anschwellende Summen, eine Vibration, die seinen Kopf mit hellem, weißem Licht erfüllen wollte. Es war – erkannte Jake mit einer so überwältigenden Freude, daß sie drohte, ihn in Stücke zu reißen – die Stimme des Ja; die Stimme des Weiß; die Stimme des Immer. Es war ein gewaltiger Chor der Zustimmung, und er sang auf einem unbebauten Grundstück. Er sang für ihn.
Dann sah Jake in einem Dickicht verfilzter Kletten den Schlüssel… und dahinter die Rose.
17
Die Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die Knie. Er merkte am Rande, daß er weinte, und noch weiter entfernt, daß er sich ein wenig die Hosen naß gemacht hatte. Er kroch auf Knien vorwärts und griff nach dem Schlüssel, der in dem Klettendickicht lag. Seine einfache Form schien er schon in Träumen gesehen zu haben:
Er dachte: Die kleine S-Form am Ende – das ist das Geheimnis.
Als er den Schlüssel in die Hand nahm, schwollen die Stimmen zu einem harmonischen Aufschrei des Triumphs an. Jakes eigener Schrei ging in der Stimme dieses Chors unter. Er sah den Schlüssel weiß in seinen Händen aufblitzen und verspürte einen gewaltigen Energiestoß seinen Arm entlanglaufen. Es war, als hätte er ein Starkstromkabel umklammert, aber er verspürte keine Schmerzen.
Er schlug Charlie Tschuff-Tschuff auf und verwahrte den Schlüssel darinnen. Dann richtete er den Blick auf die Rose, und ihm wurde klar, daß sie der wahre Schlüssel war – der Schlüssel für alles. Er kroch darauf zu, und sein Gesicht war eine flammende Korona aus Licht, die Augen lodernde Brunnen blauen Feuers.
Die Rose wuchs aus einem Büschel fremden, purpurnen Grases.
Als Jake sich diesem Büschel näherte, tat sich die Rose vor seinen Augen auf. Sie enthüllte einen dunklen, scharlachroten Brennofen, Blütenblatt um heimliches Blütenblatt, und jedes brannte von einer eigenen geheimen Wut erfüllt. In seinem ganzen Leben hatte er noch niemals etwas so Intensives und durch und durch vor Leben Strotzendes gesehen.
Als er nun die schmutzigen Hände diesem Wunder entgegenstreckte, fingen die Stimmen an, seinen eigenen Namen zu singen… und Todesangst stahl sich ins Zentrum seines Herzens. Sie war kalt wie Eis und schwer wie Stein.
Etwas stimmte nicht. Er konnte eine pulsierende Dissonanz spüren, wie ein häßlicher Kratzer auf einem kostbaren Kunstwerk oder ein tödliches Fieber, das unter
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