Der Dunkle Turm 4 - Glas
sang ihr Blut vor Wut und Scham. Überwiegend Wut. Wie konnte er sich anmaßen, über sie zu richten? Er, der mit jedem erdenklichen Luxus aufgewachsen war, zweifellos mit Dienern, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablasen, und so viel Gold, dass er es wahrscheinlich nicht einmal brauchte – er bekam alles, was er wollte, umsonst, als Gefälligkeit. Was konnte ein Knabe wie er – und etwas anderes war er wirklich nicht, ein Knabe – schon von den schweren Entscheidungen wissen, die sie treffen musste? Und was das betraf, wie konnte jemand wie Mr. Will Dearborn aus Hemphill begreifen, dass diese Entscheidungen eigentlich gar nicht von ihr selbst getroffen worden waren? Dass sie dazu gebracht worden war, so wie eine Katzenmutter ein streunendes Kätzchen zum Körbchen zurückbrachte, indem sie es am Nacken packte?
Trotzdem ging er ihr nicht aus dem Sinn; sie wusste, auch wenn es Tante Cord nicht wusste, dass bei ihrem Streit heute Morgen ein unsichtbarer Dritter zugegen gewesen war.
Und sie wusste noch etwas, etwas, was ihre Tante in endlose Aufregung versetzt hätte.
Will Dearborn hatte sie auch nicht vergessen.
4
Etwa eine Woche nach dem Empfangsessen und Dearborns katastrophaler, verletzender Bemerkung ihr gegenüber war der zurückgebliebene Handlanger aus dem Traveller’s Rest – Sheemie, so nannten ihn die Leute – in dem Haus erschienen, wo Susan mit ihrer Tante wohnte. In den Händen hielt er einen großen Strauß, überwiegend Wildblumen, die draußen an der Schräge wuchsen, aber dazwischen auch vereinzelte dunkle wilde Rosen. Sie sahen wie rosige Satzzeichen aus. Der Junge hatte ein breites, sonniges Grinsen auf dem Gesicht getragen, als er das Tor aufmachte, ohne auf eine Einladung zu warten.
Zu jenem Zeitpunkt hatte Susan den Aufgang zum Haus gefegt; Tante Cord war hinten im Garten gewesen. Ein glücklicher Umstand, wenn auch nicht sonderlich überraschend; in diesen Tagen kamen sie beide am besten miteinander aus, wenn sie sich so weit wie möglich aus dem Weg gingen.
Susan hatte Sheemie, der hinter seiner hoch gehaltenen Blumenlast hervorgrinste, mit einer Mischung aus Faszination und Grauen entgegengesehen.
»Tag auch, Susan Delgado, Tochter von Pat«, sagte Sheemie fröhlich. »Ich komme als Bote zu Euch und erflehe Eure Verzeihung für alle Ungelegenheitigkeiten, die ich bereiten könnte, o aye, ich bin nämlich ein Ärgerling für die Leute, weiß ich so gut wie sie. Die solln für Euch sein. Hier.«
Er hielt sie ihr hin, und sie sah einen kleinen, zusammengelegten Umschlag dazwischen stecken.
»Susan?« Tante Cords Stimme von seitlich hinter dem Haus… und sie kam näher. »Susan, habe ich das Tor gehört?«
»Ja, Tante!«, rief sie zurück. Verflucht seien die scharfen Ohren dieser Frau! Susan nahm den Umschlag mit tauben Fingern zwischen den Flammenblumen und den Gänseblümchen heraus. Und ließ ihn in der Tasche ihres Kleids verschwinden.
»Sind von meinem drittbesten Freund«, sagte Sheemie. »Ich habe jetzt drei verschiedene Freunde. So viele.« Er hielt zwei Finger hoch, runzelte die Stirn, fügte noch zwei hinzu und grinste dann strahlend. »Arthur Heath, mein bester Freund, Dick Stockworth, mein zweitbester Freund. Mein drittbester Freund…«
»Still!«, sagte Susan mit einer leisen, zischenden Stimme, bei der Sheemies Lächeln sofort verschwand. »Kein Wort über deine drei Freunde.«
Ein komisches Erröten, fast wie ein kleiner Fieberanfall, huschte über ihre Haut – es schien von den Wangen über den Hals bis hinunter zu den Füßen zu laufen. In den vergangenen Wochen war in ganz Hambry viel über Sheemies drei neue Freunde geredet worden – und, wie es schien, über kaum etwas anderes. Die Geschichten, die sie gehört hatte, waren unfassbar, aber wenn sie nicht stimmten, warum stimmten dann die Versionen so vieler Zeugen so sehr miteinander überein?
Susan versuchte immer noch, sich wieder in den Griff zu bekommen, als ihre Tante Cord auch schon um die Ecke gerauscht kam. Sheemie wich bei ihrem Anblick einen Schritt zurück, und aus seiner Verwirrung wurde regelrechter Widerwille. Ihre Tante war allergisch gegen Bienenstiche und derzeit von der Krempe ihrer Stroh -’brera bis zum Saum ihres ausgebleichten Gartenkleids in Gazestoff gehüllt, mit dem sie schon im hellen Licht seltsam aussah, im Schatten aber regelrecht unheimlich. Als letzten Schliff für ihr Kostüm hielt sie eine schmutzverkrustete Gartenschere in der behandschuhten Hand.
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