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Der Dunkle Turm 4 - Glas

Titel: Der Dunkle Turm 4 - Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: King Stephen
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Wunder, dass überhaupt welche zu Männern heranwuchsen.
    Jonas’ Gesicht blieb unbewegt, während er kniend den Vogelschädel betrachtete, aber hinter der glatten Stirn war er so wütend wie noch nie in seinem Leben. Sie waren tatsächlich hier draußen gewesen – auch das war etwas, worüber er gestern noch verächtlich gelacht hätte. Er musste davon ausgehen, dass sie die Tankwagen gesehen hatten, Tarnung hin oder her. Wenn er allerdings nicht zufällig diesen Schädel gefunden hätte, dann hätte er es wahrscheinlich nie herausgefunden.
    »Wenn ich mit ihnen fertig bin, werden ihre Augenhöhlen so leer sein wie deine, Sai Krähe. Ich werde ihnen die Augen höchstpersönlich herausquetschen.«
    Er wollte den Schädel schon wegwerfen, überlegte es sich dann aber anders. Möglicherweise kam er ihm noch gut zupass. Er trug ihn in der offenen Hand bis zu der Stelle, wo er sein Pferd gelassen hatte.
     
     
    7
     
    Coral Thorin ging die Hauptstraße entlang zum Traveller’s Rest; in ihrem Kopf pochte es knarzend, und das Herz schlug ihr gallig gegen die Brust. Sie war erst seit einer Stunde auf den Beinen, aber ihr Kater war so schlimm, dass es ihr schon wie ein ganzer Tag vorkam. In letzter Zeit trank sie zu viel – fast jede Nacht –, und wusste das auch, aber sie achtete stets sorgsam darauf, dass sie dort, wo die Leute es sehen konnten, nie mehr als ein oder zwei Gläser zu sich nahm (und immer nur ein leichtes Getränk). Bis jetzt, glaubte sie, hatte niemand Verdacht geschöpft. Und solange niemand Verdacht schöpfte, konnte sie ja weitermachen. Wie sonst hätte sie ihren idiotischen Bruder ertragen können? Diese idiotische Stadt? Und natürlich das Wissen, dass alle Rancher im Pferdezüchterverband und mindestens die Hälfte aller Großgrundbesitzer Verräter waren? »Scheiß auf den Bund«, flüsterte sie. »Lieber den Spatz in der Hand.«
    Aber hatte sie wirklich einen Spatz in der Hand? Irgendeiner von ihnen? Würde Farson seine Versprechen einhalten – Versprechen, die ein Mann namens Latigo gegeben und die Hambrys eigener unnachahmlicher Kimba Rimer übermittelt hatte? Coral hatte da ihre Zweifel; Despoten neigten dazu, ihre Versprechen einfach zu vergessen, und Spatzen in der Hand hatten die ärgerliche Angewohnheit, einem in die Finger zu picken, in die Handfläche zu scheißen und dann wegzufliegen. Nicht, dass es noch eine Rolle spielte; ihr Bett war gemacht. Außerdem würden die Leute immer trinken und spielen und vögeln wollen, ganz gleich, vor wem sie sich verbeugten und in wessen Namen ihre Steuern eingetrieben wurden.
    Doch wenn sich die Stimme des alten Dämons Gewissen zu Wort meldete, halfen ein paar kräftige Schlucke, sie zum Schweigen zu bringen.
    Sie blieb vor dem Bestattungsinstitut Craven stehen und sah die Straße hinauf, wo lachende Jungs auf Leitern Papierlaternen an hohen Pfosten und Erkern aufhängten. Diese fröhlichen Lampions würden in der Nacht der Erntefeier angezündet werden und hunderte von Schattierungen sanften, wetteifernden Lichts auf die Hauptstraße von Hambry werfen.
    Einen Augenblick lang musste Coral an das Kind denken, das sie einmal gewesen war, das staunend die bunten Papierlaternen betrachtete, das den Rufen und dem Knattern des Feuerwerks lauschte, das der Tanzmusik lauschte, die aus dem Green Heart drang, während sie der Vater an der Hand hielt… und auf der anderen Seite ihren großen Bruder Hart. In dieser Erinnerung trug Hart stolz sein erstes Paar lange Hosen.
    Nostalgie überkam sie, zuerst süß, dann bitter. Dieses Kind war zu einer blässlichen Frau herangewachsen, der ein Saloon und ein Puff gehörten (ganz zu schweigen von einem großen Stück Land an der Schräge), einer Frau, deren einziger Sexualpartner in letzter Zeit der Kanzler ihres Bruders war, einer Frau, deren erstes Sinnen und Trachten nach dem Aufstehen neuerdings war, so schnell wie möglich einen Schluck Alkohol zu trinken, um den Kater zu vertreiben. Wie hatte es nur so weit kommen können? Diese Frau, durch deren Augen sie sah, war die letzte Frau, die das Kind von damals zu werden erwartet hatte.
    »Wo bin ich vom Weg abgekommen?«, fragte sie sich und lachte. »O lieber Jesusmensch, wo ist diese verirrte kleine Sünderin vom Weg abgekommen? Kannst du es sagen, halleluja?« Sie hörte sich so sehr an wie die Wanderpredigerin, die im Jahr zuvor durch die Stadt gekommen war – Pittston, so hatte sie geheißen, Sylvia Pittston –, dass sie wieder lachen musste, diesmal fast

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