Der Dunkle Turm 4 - Glas
beißenden Geruch. »Habt ihr euch das ausgedacht, als ihr hinterher gekuschelt habt, du und er?«
Susan hatte einen Schritt nach vorn gemacht, das knochige Handgelenk ihrer Tante gepackt und auf den Flecken auf einem Knie der Hose gedrückt. Cordelia schrie auf und versuchte, die Hand wegzuziehen, aber Susan hielt sie fest. Dann hielt sie ihrer Tante die Hand vors Gesicht, und zwar so lange, bis sie wusste, dass Cordelia gerochen hatte, was auf ihrer Handfläche war.
»Riecht Sie es, Tante? Farbe! Wir haben Reispapier für bunte Lampions damit bemalt!«
Langsam ließ die Spannung des Handgelenks nach, das Susan festhielt. Die Augen, die in ihre sahen, bekamen wieder eine gewisse Klarheit. »Aye«, hatte sie schließlich gesagt. »Farbe.« Eine Pause. »Diesmal.«
Seitdem hatte Susan nur zu oft den Kopf gedreht und eine Gestalt mit schmalen Hüften erblickt, die ihr auf der Straße nachschlich; oder eine der zahlreichen Freundinnen ihrer Tante verfolgte sie mit misstrauischen Blicken. Wenn sie auf der Schräge ausritt, hatte sie neuerdings immer das Gefühl, als würde sie beobachtet. Vor dem Zusammentreffen auf dem Friedhof hatte sie zweimal eingewilligt, sich mit Roland und seinen Freunden zu treffen. Beide Male war sie gezwungen gewesen, die Treffen abzusagen, das zweite im allerletzten Augenblick. Bei dieser Gelegenheit hatte sie Brian Hookeys ältesten Sohn gesehen, der sie auf eine seltsame, durchdringende Weise betrachtete. Es war nur eine Eingebung gewesen… aber eine starke Eingebung.
Ihre Lage wurde dadurch verschlimmert, dass sie sich so sehr nach einem Treffen sehnte wie Roland auch, aber nicht nur zum Palavern. Sie musste sein Gesicht sehen, eine seiner Hände zwischen den ihren halten. Der Rest, so schön es war, konnte warten, aber sie musste ihn sehen und berühren; musste sicherstellen, dass er nicht nur ein Traum war, den ein einsames, ängstliches Mädchen sich zurechtgesponnen hatte, um sich zu trösten.
Zuletzt hatte Maria ihr geholfen – die Götter mögen die kleine Zofe segnen, die möglicherweise mehr verstand, als Susan je vermuten konnte. Maria war mit einer Nachricht zu Cordelia gegangen, auf der stand, dass Susan die Nacht im Gästeflügel von Seafront verbringen werde. Die Nachricht kam von Olive Thorin, und Cordelia konnte bei allem Misstrauen nicht glauben, dass es sich um eine Fälschung handelte. Und es war auch keine. Olive hatte sie, gleichgültig und ohne Fragen zu stellen, geschrieben, als Susan sie darum gebeten hatte.
»Was ist los mit meiner Nichte!«, hatte Cordelia gefaucht.
»Sie müde, Sai. Und mit dem dolor de garganta.«
»Halsschmerzen? So kurz vor dem Erntejahrmarkt? Lächerlich! Das glaube ich nicht! Susan ist nie krank!«
»Dolor de garganta«, wiederholte Maria so gleichgültig, wie nur eine Bauersfrau im Angesicht von Zweifeln sein konnte, und damit musste sich Cordelia zufrieden geben. Maria selbst hatte keine Ahnung, was Susan im Schilde führte, und genau so war es Susan recht.
Sie war zum Balkon gegangen, behände die hohen Ranken hinabgeklettert, die an der Nordseite des Gebäudes wuchsen, und durch den Dienstboteneingang an der Rückseite hinausgeflüchtet. Dort hatte Roland auf sie gewartet, und nach zwei feurigen Minuten, mit denen wir uns nicht näher befassen müssen, ritten sie gemeinsam auf Rusher zum Friedhof, wo Cuthbert und Alain voller Erwartung und unruhiger Hoffnung warteten.
3
Susan betrachtete zuerst den gemütlichen Blonden mit dem runden Gesicht, dessen Name nicht Richard Stockworth war, sondern Alain Johns. Dann den anderen – denjenigen, von dem sie solche Zweifel bezüglich ihrer Person gespürt hatte, vielleicht sogar Wut. Cuthbert Allgood war sein Name.
Sie saßen nebeneinander auf einem mit Efeu überwucherten umgestürzten Grabstein, und ihre Füße steckten in einem flachen Rinnsal aus Nebel. Susan glitt von Rushers Rücken und näherte sich ihnen langsam. Sie standen auf. Alain machte eine Verbeugung, wie sie in Innerwelt üblich war – Bein ausgestreckt, Knie durchgedrückt, Fersen fest aufgestützt. »Lady«, sagte er. »Lange Tage…«
Nun stand der andere neben ihm – schlank und dunkel, mit einem Gesicht, das hübsch gewesen wäre, hätte es nicht diese Ruhelosigkeit besessen. Seine dunklen Augen sahen wirklich wunderschön aus.
»… und angenehme Nächte«, sprach Cuthbert zu Ende und ahmte Alains Verbeugung nach. Die beiden sahen so sehr wie komische Höflinge in einem Jahrmarktsschauspiel aus,
Weitere Kostenlose Bücher