Der Dunkle Turm 4 - Glas
zertrümmerten Schädel in seinen Schoß und schnitt sich unter den Blicken einer Eule, die auf einem nahe gelegenen Baum saß, selbst die Kehle durch. Sterbend bedeckte er ihr Gesicht mit Küssen, und als die beiden gefunden wurden, hatte ihr beider Blut ihre Lippen miteinander versiegelt.
Eine alte Geschichte. Jede Ortschaft hat da ihre eigene Version. Schauplatz ist für gewöhnlich ein bei Nacht kaum besuchter Parkplatz, ein abgelegener Abschnitt des Flussufers oder der Friedhof. Wenn die Einzelheiten des tatsächlichen Geschehens so weit verzerrt sind, dass sie morbid-romantischen Gemütern genügen, werden Balladen daraus geschrieben. Diese werden für gewöhnlich von schmachtenden Jungfrauen gesungen, die schlecht Gitarre oder Mandoline spielen und kaum den Ton halten können. Refrains enthalten meistens Tränendrüsendrücker wie Mei-di-dei-di-o, Hand in Hand starben sie so.
In Hambrys Version dieser abgedroschenen Geschichte hießen die Liebenden Robert und Francesca, und sie hatte sich in alten Zeiten zugetragen, bevor die Welt sich weiterbewegt hatte. Schauplatz des mutmaßlichen Mordes/Selbstmordes war der Friedhof von Hambry; der Stein, mit dem Francescas Schädel eingeschlagen worden war, war ein Markierstein aus Schiefer; und die Granitwand, an der Robert lehnte, als er sich die Luftröhre durchschnitt, war die des Mausoleums der Thorins gewesen. (Es ist fraglich, ob es in Hambry oder Mejis vor fünf Generationen überhaupt schon Thorins gegeben hat, aber folkloristische Überlieferungen sind im Großen und Ganzen nichts weiter als in Versform gebrachte Lügen.)
Ob wahr oder unwahr, man erzählte sich, dass die Geister der Liebenden auf dem Friedhof umgingen, und man könne sehen (wurde behauptet), wie sie blutüberströmt und mit sehnsüchtigen Blicken Hand in Hand zwischen den Grabsteinen einhergingen. Aus diesem Grund wurde der Friedhof nachts selten besucht und bot daher einen folgerichtigen Treffpunkt für Roland, Cuthbert, Alain und Susan.
Als das Treffen stattfand, fühlte sich Roland in zunehmendem Maße besorgt… sogar verzweifelt. Susan war das Problem – oder besser gesagt, Susans Tante. Auch ohne Rheas verderblichen Brief hatten sich Cordelias Mutmaßungen über Roland und Susan fast zur Gewissheit verhärtet. Einmal – keine Woche vor dem Treffen auf dem Friedhof – hatte Cordelia ihre Nichte praktisch schon in dem Moment angeschrien, als diese mit dem Korb auf dem Arm zur Haustür hereingekommen war.
»Du warst bei ihm! Das warst du, du schlechtes Mädchen, es steht dir deutlich im Gesicht geschrieben!«
Susan, die an jenem Tag nicht einmal in Rolands Nähe gewesen war, konnte ihre Tante zuerst nur fassungslos ansehen. »Bei wem?«
»Ach, stell dich nicht dümmer, als du bist, Miss O So Jung Und Hübsch! Stell dich nicht so dumm, ich bitte dich! Wem hängt denn praktisch die Zunge heraus, wenn er nur an unserem Haus vorbeireitet? Dearborn, der ist es! Dearborn! Dearborn! Ich sage es tausendmal! Schäm dich! Schäm dich! Sieh dir deine Hose an! Grün vom Gras, in dem ihr beiden euch gewälzt habt, ist sie! Und ich bin überrascht, dass sie nicht auch noch im Schritt zerrissen ist!« Inzwischen hatte Tante Cord fast gekreischt. Die Adern an ihrem Hals standen wie Taue hervor.
Susan hatte nachdenklich die alte Khakihose betrachtet, die sie trug.
»Tante, das ist Farbe – siehst du das denn nicht? Chetta und ich haben im Haus des Bürgermeisters Dekorationen für den Jahrmarkt gemacht. Was an meiner Kehrseite ist, habe ich abbekommen, als Hart Thorin – nicht Dearborn, sondern Thorin – im Schuppen über mich gekommen ist, wo die Dekorationen und Feuerwerkskörper gelagert werden. Er dachte sich, Zeit und Ort wären günstig für einen weiteren kleinen Ringkampf. Er ist über mich gekommen, hat seinen Strahl wieder in seine Hose geschossen und ist glücklich von dannen gezogen. Gesummt hat er dabei.« Sie rümpfte die Nase, obwohl sie neuerdings nur noch einen traurigen Widerwillen gegen Thorin verspürte. Ihre Angst vor ihm war gewichen.
Tante Cord hatte sie unterdessen mit funkelnden Augen angesehen. Zum ersten Mal stellte sich Susan offen die Frage nach Cordelias Geisteszustand.
»Eine glaubwürdige Geschichte«, flüsterte Cordelia schließlich. Kleine Schweißperlen standen über ihren Augenbrauen, und die blauen Stränge der Adern an ihren Schläfen tickten wie Uhrwerke. Neuerdings hatte sie sogar einen Geruch an sich, ob sie badete oder nicht – einen ranzigen,
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