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Der Dunkle Turm 4 - Glas

Titel: Der Dunkle Turm 4 - Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: King Stephen
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flatternden Vogel, sondern Clay Reynolds, der auf der Bettkante saß. In einer Hand hielt Reynolds die Feder, mit der er den Kanzler von Mejis gekitzelt hatte. Die andere war unter dem Mantel versteckt, den er auf dem Schoß liegen hatte.
    Reynolds hatte Rimer schon bei ihrer ersten Begegnung im Wald weit im Westen der Stadt nicht ausstehen können – demselben Wald jenseits des Eyebolt Canyon, wo Farsons Mann Latigo heute das Hauptkontingent seiner Truppen lagern ließ. Es war eine windige Nacht gewesen, und als er und die anderen Sargjäger die kleine Lichtung betraten, wo Rimer in Begleitung von Lengyll und Croydon an einem kleinen Lagerfeuer saß, war Reynolds’ Mantel um seine Gestalt herumgeflattert. »Sai Manto«, hatte Rimer gesagt, und die beiden anderen hatten gelacht. Es hatte ein harmloser Scherz sein sollen, aber Reynolds war er nicht harmlos vorgekommen. In vielen Ländern, die er bereist hatte, bedeutete manto nicht etwa »Mantel«, sondern »Tunte« oder »Schwuchtel«. Es war, mit anderen Worten, ein umgangssprachlicher Ausdruck für einen femininen Homosexuellen. Dass Rimer (unter der Maske zynischer Weltgewandtheit ein provinzieller Mann) das nicht wusste, kam Reynolds nie in den Sinn. Er wusste, wenn sich die Leute über ihn lustig machten, und wenn er jemanden dafür bezahlen lassen konnte, dann tat er es.
    Für Kimba Rimer war der Zahltag gekommen.
    »Reynolds? Was macht Ihr hier? Wie seid Ihr hier rein…«
    »Sie müssen den falschen Cowboy meinen«, antwortete der Mann, der auf dem Bett saß. »Hier ist kein Reynolds. Nur Señor Manto.« Er nahm die Hand unter dem Mantel hervor. Er hielt ein scharf gewetztes cuchillo darin. Reynolds hatte es zu diesem Zweck auf dem Untermarkt gekauft. Nun hob er es hoch und stieß Rimer die lange Klinge in die Brust. Sie ging ganz durch und spießte ihn auf wie ein Insekt. Eine Bettwanze, dachte Reynolds.
    Die Lampe fiel Rimer aus der Hand und rollte vom Bett. Sie landete auf dem Fußschemel, zerbrach aber nicht. An der Wand gegenüber zappelte Kimba Rimers verzerrter Schatten. Der Schatten des anderen Mannes beugte sich über ihn wie ein hungriger Geier.
    Reynolds hob die Hand, mit der er das Messer geführt hatte. Er drehte sie so, dass sich die kleine blaue Sargtätowierung unmittelbar vor Rimers Augen befand. Er wollte, dass es das Letzte war, was Rimer auf dieser Seite der Lichtung sah.
    »Lass hören, wie du dich jetzt über mich lustig machst«, sagte Reynolds. Er lächelte. »Komm schon. Lass doch mal hören.«
     
     
    2
     
    Kurz vor fünf Uhr erwachte Bürgermeister Thorin aus einem schrecklichen Traum. Darin hatte ein Vogel mit rosa Augen langsam über der Baronie gekreist. Wohin sein Schatten fiel, wurde das Gras gelb, fiel das Laub von den Bäumen, starb das Getreide ab. Der Schatten verwandelte seine grüne und reizvolle Baronie in ein wüstes Land. Es mag meine Baronie sein, aber es ist auch mein Vogel, dachte er, kurz bevor er, auf seiner Seite des Betts zu einem schlotternden Ball zusammengerollt, aufwachte. Mein Vogel. Ich habe ihn hergebracht, ich habe ihn aus seinem Käfig befreit.
    Heute Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden, das war Thorin klar. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein, trank es leer, ging ins Arbeitszimmer und zog dabei geistesabwesend sein Nachthemd aus der Spalte seines knochigen alten Hinterns. Der Bommel am Ende seiner Nachtmütze baumelte zwischen den Schulterblättern; seine Knie knackten bei jedem Schritt.
    Was die Schuldgefühle betraf, die der Traum ausdrückte… nun, was geschehen war, war geschehen. Noch einen Tag, dann würden Jonas und seine Freunde haben, weshalb sie gekommen waren (und fürstlich dafür belohnt werden); einen Tag danach würden sie fort sein. Flieg weg, Vogel mit den rosa Augen und dem Verderben bringenden Schatten; flieg dorthin zurück, woher du gekommen bist, und nimm die Großen Sargjägerjungs mit dir. Er hatte eine Ahnung, als wäre er am Jahresende so sehr damit beschäftigt, seinen Docht einzutauchen, dass er kaum Zeit haben würde, über solche Dinge nachzudenken. Oder solche Träume zu träumen.
    Außerdem waren Träume ohne sichtbare Zeichen nur Träume, keine Omen.
    Das sichtbare Zeichen hätten die Stiefel unter den Vorhängen des Arbeitszimmers sein können – nur die zerkratzten Stiefelspitzen ragten hervor –, aber Thorin sah nie in diese Richtung. Seine Augen waren auf die Flasche neben seinem Lieblingsstuhl gerichtet. Um fünf Uhr morgens Rotwein zu trinken war

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