Der Dunkle Turm 4 - Glas
und ging langsam auf dem Rasen zu ihrem Garten, um den Laubhaufen herum, den sie am Nachmittag zusammengerecht hatte. In den Armen hielt sie ein Bündel Kleidungsstücke. Sie ließ sie vor dem Pfosten fallen, an dem ihre Strohpuppe festgebunden war, und sah gebannt zum aufgehenden Mond hinauf: das wissende Blinzeln des Auges, das Ghulsgrinsen; silbern wie Knochen war er, dieser Mond, ein weißer Knopf auf violetter Seide.
Er grinste Cordelia an; Cordelia grinste zurück. Schließlich ging sie wie eine Frau, die aus einer Trance erwacht war, zu dem Pfosten und zog die Strohpuppe herunter. Der Kopf rollte haltlos auf Cordelias Schulter wie der Kopf eines Mannes, der zu betrunken war, um zu tanzen. Seine roten Hände baumelten lose umher.
Sie zog der Puppe die Kleider aus und entblößte dabei eine gewölbte, halbwegs menschliche Gestalt in einem Paar langer Unterhosen ihres toten Bruders. Sie nahm eines der Kleidungsstücke, die sie aus dem Haus mitgebracht hatte, und hielt es ins Mondlicht. Ein Reithemd aus roter Seide, eines von Bürgermeister Thorins Geschenken für Miss O So Jung Und Hübsch. Eines von denen, die sie nicht anziehen wollte. Hurenkleider, hatte sie sie genannt. Und was machte das aus Cordelia Delgado, die sich ihrer angenommen hatte, nachdem ihr starrköpfiger Bruder beschlossen hatte, dass er sich mit Leuten vom Kaliber eines Fran Lengyll und John Croydon anlegen musste? Sie nahm an, es machte sie zu einer Puffmutter.
Dieser Gedanke führte zu einem Bild von Eldred Jonas und Coral Thorin, wie die beiden es nackt miteinander trieben, während ein billiges Klavier unter ihnen den »Red Dirt Boogie« spielte, und Cordelia winselte auf einmal wie eine Hündin.
Sie zog das Seidenhemd über den Kopf der Strohpuppe. Danach kam Susans Hosenrock. Nach dem Hosenrock ein Paar von deren Schuhen. Und schließlich, anstelle des sombrero, eine von Susans Frühjahrshauben.
Presto! Der Strohjunge war jetzt ein Strohmädchen.
»Und mit roten Händen bist du erwischt worden«, flüsterte sie. »Ich weiß es. O ja. Ich weiß es. Ich bin nicht von gestern.«
Sie trug die Strohpuppe vom Garten zu dem Laubhaufen auf dem Rasen. Sie legte die Puppe dicht zu den Blättern, dann hob sie ein paar davon auf und schob sie unter das Reiterhemd, sodass ansatzweise Brüste entstanden. Als sie damit fertig war, holte sie ein Streichholz aus der Tasche und zündete es an.
Der Wind ließ nach, als wollte er unbedingt mithelfen. Cordelia hielt das Streichholz an das trockene Laub. Bald loderte der ganze Haufen. Sie hob die Strohpuppe hoch und stellte sich damit vor das Feuer. Sie hörte nicht das Knattern der Feuerwerkskörper in der Stadt, auch nicht das Flöten der Dampfpfeifenorgel im Green-Heart-Park oder die Mariachi-Kapelle, die im Untermarkt spielte; als ein brennendes Blatt emporgewirbelt wurde, an ihrem Haar vorbeiflog und es beinahe in Brand setzte, bemerkte sie das nicht einmal. Ihre Augen waren groß und leer.
Als das Feuer seinen Höhepunkt erreicht hatte, trat sie an den Rand und warf die Strohpuppe hinein. Flammen leckten mit orangeroten Zungen über sie; Funken und brennende Blätter wirbelten trichterförmig himmelwärts.
»So lass es geschehen!«, schrie Cordelia. Der Feuerschein auf ihrem Gesicht verwandelte ihre Tränen in Blut. »Charyou-Baum! Aye, genau so!«
Das Ding in der Reitkleidung fing Feuer, sein Gesicht verkohlte, die roten Hände loderten, die weißen Kreuzstichaugen wurden rußschwarz. Die Haube ging in Flammen auf; das Gesicht fing an zu brennen.
Cordelia stand da und sah zu, ballte und entspannte abwechselnd die Fäuste, achtete nicht auf die Funken, die ihre Haut berührten, achtete nicht auf die brennenden Blätter, die zum Haus geweht wurden. Wenn das Haus selbst Feuer gefangen hätte, hätte sie dem wahrscheinlich auch keine Beachtung geschenkt.
Sie sah zu, bis die Strohpuppe in den Kleidern ihrer Nichte nur noch ein Häufchen Asche war. Dann ging sie so langsam wie ein Roboter mit rostigen Gelenken zum Haus zurück, legte sich aufs Sofa und schlief wie eine Tote.
13
Es war halb vier in der Früh am Tag vor dem Erntefest, und Stanley Ruiz dachte, er hätte es für diese Nacht endlich hinter sich. Das letzte Musikstück war vor zwanzig Minuten verklungen – Sheb hatte rund eine Stunde länger durchgehalten als die mariachis und lag jetzt schnarchend im Sägemehl. Sai Thorin war oben, und die Großen Sargjäger hatten sich nicht blicken lassen; Stanley hatte eine Ahnung,
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