Der Dunkle Turm 4 - Glas
mich gegen den Willen eines Mannes zu stellen, der der mächtigste Mann in Mittwelt sein wird, wenn der Dämonenmond nächstes Jahr aufgeht? Wenn ich ohne sie zurückkehre und sage, Rhea vom Cöos wollte sie mir nicht geben, wird er mich töten.«
»Wenn du zurückkehrst und ihm sagst, dass ich sie vor deinem hässlichen alten Gesicht zerschmettert habe, wird er dich auch töten«, sagte Rhea. Sie war so nahe, dass Jonas sehen konnte, wie sehr die Krankheit sie zerfressen hatte. Über den wenigen verbliebenen Haarsträhnen schwankte die vermaledeite Kugel hin und her. Sie würde sie nicht mehr lange halten können. Höchstens noch eine Minute. Jonas spürte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten.
»Aye, Mütterchen. Aber wenn ich schon die Wahl zwischen zwei Todesarten habe, werde ich die Ursache meines Problems mit in den Tod nehmen. Und das bist du, Schätzchen.«
Sie krächzte wieder – diese staubige Nachahmung eines Lachens – und nickte anerkennend. »Ohne mich wird sie Farson sowieso nichts nützen«, sagte sie. »Mir dünkt, sie hat ihre Herrin gefunden – darum ist sie beim Klang deiner Stimme auch so dunkel geworden.«
Jonas fragte sich, wie viele andere sich wohl schon gedacht hatten, dass die Kugel ausschließlich für sie bestimmt gewesen sei. Er wollte sich den Schweiß von der Stirn wischen, bevor er ihm in die Augen lief, behielt die Hände aber vor sich, fein säuberlich auf dem Sattelknauf gefaltet. Er wagte weder Reynolds noch Depape anzusehen und konnte nur hoffen, dass sie ihm das Spiel überlassen würden. Die alte Frau balancierte körperlich wie geistig auf des Messers Schneide; die kleinste Bewegung, und sie konnte in die eine oder andere Richtung abstürzen.
»Sie hat diejenige gefunden, die sie wollte, ja?« Er glaubte, dass er einen Ausweg aus der vertrackten Situation sah. Wenn er Glück hatte. Und möglicherweise würde das auch ihr Glück sein. »Was sollen wir jetzt unternehmen?«
»Nimm mich mit.« Sie verzog das Gesicht zu einem abscheulichen Ausdruck der Gier; sie sah aus wie ein Leichnam, der zu niesen versuchte. Ihr ist gar nicht klar, dass sie am Sterben ist, dachte Jonas. Den Göttern sei Dank dafür. »Nimm die Kugel mit, aber mich auch. Ich gehe mit dir zu Farson. Ich werde seine Wahrsagerin, und nichts wird uns aufhalten können, wenn ich die Kugel für ihn lese. Nimm mich mit!«
»Einverstanden«, sagte Jonas. Der Vorschlag war genau das, was er sich erhofft hatte. »Aber ich habe keinen Einfluss darauf, wie Farson letztlich entscheiden wird. Das weißt du doch, oder?«
»Aye.«
»Gut. Und jetzt reich mir kurz die Kugel. Ich gebe sie danach wieder in deine Obhut, wenn du möchtest, aber ich muss mich erst vergewissern, dass sie unversehrt ist.«
Sie ließ die Kugel langsam sinken. Jonas glaubte, dass die Kugel auch dann nicht völlig sicher war, wenn sie in den Armen der alten Frau ruhte, aber er konnte trotzdem etwas leichter atmen. Sie schlurfte auf ihn zu, und er musste den Wunsch unterdrücken, sein Pferd von ihr wegzulenken.
Er bückte sich im Sattel und streckte die Hände nach der Glaskugel aus. Sie schaute zu ihm auf, und ihre alten Augen blickten immer noch verschlagen aus den verklebten Lidern. Eines verzog sie sogar zu einem verschwörerischen Zwinkern. »Ich weiß, was du denkst, Jonas. Du denkst: ›Ich nehme die Kugel, dann ziehe ich meine Waffe und töte sie, was kann es schaden?‹ Ist es nicht so? Aber es könnte schaden, und zwar dir und denen, die bei dir sind. Wenn du mich tötest, wird die Kugel nie wieder für Farson leuchten. Für irgendjemanden zwar schon, aye, eines Tages vielleicht; aber nicht für ihn… Und wird er dich am Leben lassen, wenn du ihm sein Spielzeug zurückbringst, er aber feststellen muss, dass es kaputt ist?«
Darüber hatte Jonas bereits nachgedacht. »Wir haben eine Abmachung, altes Mütterchen. Du gehst mit dem Glas mit nach Westen… es sei denn, du stirbst eines Nachts am Wegesrand. Verzeih mir, wenn ich das sage, aber du siehst nicht gut aus.«
Sie gackerte. »Mir geht es besser, als ich aussehe, o yar! Es wird noch Jahre dauern, bis meine alte Uhr abgelaufen ist!«
Ich glaube, da irrst du dich vielleicht, altes Mütterchen, dachte Jonas. Aber er blieb still und streckte nur die Hände nach der Kugel aus.
Sie behielt sie noch einen Augenblick bei sich. Ihre Vereinbarung war getroffen und beiderseits bestätigt worden, aber sie brachte es dennoch kaum fertig, die Kugel loszulassen. Die Gier leuchtete in
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