Der Dunkle Turm 4 - Glas
ihren Augen wie Mondlicht hinter dem Nebel.
Er hielt die Hände geduldig ausgestreckt und wartete schweigend darauf, dass ihr Verstand die Gegebenheit annehmen würde – wenn sie losließ, bestand dafür immerhin eine gewisse Aussicht auf Erfolg. Wenn sie nicht losließ, würden über kurz oder lang wahrscheinlich alle hier auf diesem steinigen, verwahrlosten Hof zur Lichtung am Ende des Pfads reiten… sie eingeschlossen.
Schließlich übergab sie ihm die Kugel mit einem Seufzer des Bedauerns. In dem Augenblick aber, als sie von ihr zu ihm weitergereicht wurde, pulsierte tief in dem Glas ein Fünkchen rosa Lichts. Ein stechender Schmerz fuhr Jonas in den Kopf… und ein lüsternes Erschauern kribbelte in seinen Hoden.
Wie aus weiter Ferne hörte er Depape und Reynolds die Revolver ziehen.
»Steckt sie weg«, sagte Jonas.
»Aber…«, begann Reynolds verwirrt.
»Sie haben gedacht, du würdest die gute Rhea übers Ohr hauen«, sagte die alte Frau gackernd. »Ein Glück, dass du das Kommando hast, und nicht die da, Jonas… vielleicht weißt du was, was die nicht wissen.«
Er wusste tatsächlich etwas – wie gefährlich das glatte Ding aus Glas in seinen Händen war. Wenn es wollte, hätte es ihn im Handumdrehen holen können. Und in einem Monat würde er wie die Hexe sein: abgemagert, von Schwären überzogen und zu besessen, dass er es wusste oder es ihn auch nur kümmerte.
»Steckt sie weg!«, rief er.
Reynolds und Depape wechselten einen Blick und steckten ihre Waffen dann in die Holster.
»Dieses Ding hatte einen Beutel«, sagte Jonas. »Mit einer Kordel. Geh ihn holen.«
»Aye«, sagte Rhea und grinste unangenehm zu ihm hinauf. »Aber das wird die Kugel nicht daran hindern, dich zu holen, wenn sie es will. Du solltest lieber nicht davon ausgehen, dass sie das tun wird.« Sie betrachtete die beiden anderen, und ihr Blick verweilte schließlich kurz auf Reynolds. »In meinem Schuppen habe ich einen Wagen, und zwei gute graue Ziegen, die ihn ziehen.« Sie sprach zwar mit Reynolds, aber ihr Blick kehrte immer wieder zur Kugel zurück, wie Jonas bemerkte… und jetzt wollten auch seine verdammten Augen dort hinsehen.
»Du gibst mir keine Befehle«, sagte Reynolds.
»Nein, aber ich«, sagte Jonas. Er sah die Kugel an, weil er den rosa Funken darin sehen wollte, obwohl er sich gleichzeitig davor fürchtete. Nichts. Kalt und dunkel. Er richtete den Blick wieder auf Reynolds. »Hol den Karren.«
12
Reynolds hörte das Summen der Fliegen bereits, bevor er durch die schiefe Tür des Schuppens gegangen war, und wusste gleich, dass Rheas Ziegen keinen Karren mehr ziehen würden. Sie lagen tot und aufgebläht in ihrem Stall, Beine in die Luft gestreckt, und in ihren Augen wimmelte es von Maden. Man konnte unmöglich sagen, wann Rhea ihnen zuletzt Futter und Wasser gegeben hatte, aber dem Geruch nach zu urteilen, dachte Reynolds, musste es mindestens eine Woche her sein.
War zu sehr damit beschäftigt, in diese Glaskugel zu starren, um sich darum zu kümmern, dachte er. Aber warum trägt sie eigentlich eine tote Schlange um den Hals?
»Will ich gar nicht wissen«, murmelte er hinter seinem vor die Nase gezogenen Halstuch. Im Augenblick wollte er nur eines, nämlich schleunigst von hier weg.
Er entdeckte den Karren, der schwarz gestrichen und mit goldenen kabbalistischen Symbolen verziert war. Reynolds fand, dass der Karren wie der Wagen eines fahrenden Wunderheilers aussah, aber auch ein bisschen wie ein Leichenwagen. Er nahm ihn an der Deichsel und zog ihn, so schnell er konnte, aus dem Schuppen heraus. Den Rest konnte Depape machen, bei allen Göttern. Sein Pferd vor den Wagen spannen, um die stinkende Alte zu ziehen… aber wohin? Wer mochte das wissen? Vielleicht Eldred.
Rhea kam mit dem Beutel, in dem sie die Glaskugel einst hergebracht hatten, aus der Hütte, blieb aber mit schräg gelegtem Kopf stehen und horchte, als Reynolds seine Frage stellte.
Jonas dachte nach, dann sagte er: »Vorerst einmal geht’s nach Seafront, würde ich sagen. Yar, da wird sie vermutlich mitsamt der Glaskugel gut aufgehoben sein, bis das Fest morgen vorbei ist.«
»Aye, Seafront, da war ich noch nie«, sagte Rhea und setzte sich wieder in Bewegung. Als sie bei Jonas’ Pferd ankam (das vor ihr zurückscheute), öffnete sie den Beutel. Nach einem Augenblick des Nachdenkens ließ Jonas die Kugel hineingleiten. Sie wölbte den Beutel an der Unterseite und zog ihn in die Form einer Träne.
Rhea lächelte
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