Der Dunkle Turm 4 - Glas
lauten Krach in sich zusammengestürzt – all ihre Hoffnungen auf das Vermögen, das Susan und deren Kind von Thorin bekommen hätte, vielleicht sogar noch zu seinen Lebzeiten, mit Sicherheit aber durch sein Testament; alle ihre Hoffnungen, zu der ihr gemäßen Stellung in der Gesellschaft aufzusteigen; alle ihre Pläne für die Zukunft. Hinweggefegt von zwei eigensinnigen jungen Leuten, die ihre Hosen nicht oben behalten konnten.
Sie saß mit dem Nähzeug auf dem Schoß in ihrem alten Sessel – das Aschezeichen, das ihr Susan auf die Wange geschmiert hatte, stand wie ein Schandmal vor – und dachte: Eines Tages werden sie mich tot in diesem Sessel finden – alt, arm und vergessen. Dieses undankbare Kind! Nach allem, was ich für sie getan habe!
Ein schwaches Kratzen am Fenster rüttelte sie auf. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es schon andauerte, bis es endlich in ihr Bewusstsein eingedrungen war, aber als es so weit war, legte sie ihr Nähzeug beiseite und stand auf, um nachzusehen. Vielleicht ein Vogel. Oder Kinder, die Erntestreiche spielten, ohne zu wissen, dass das Ende der Welt gekommen war. Was auch immer, sie würde es wegscheuchen.
Zuerst sah Cordelia nichts. Als sie sich gerade wieder abwenden wollte, erblickte sie ein Pony nebst Wagen am Rand des Hofs. Der Wagen war ein wenig beunruhigend – schwarz mit aufgemalten goldenen Symbolen –, und das Pony an der Deichselgabel stand mit gesenktem Kopf da, ohne zu grasen, und sah aus, als wäre es halb zu Tode getrieben worden.
Sie betrachtete das alles noch stirnrunzelnd, als unmittelbar vor ihr eine verkrümmte, schmutzige Hand in die Luft gehoben wurde, um wieder an der Scheibe zu kratzen. Cordelia keuchte und hielt beide Hände an die Brust, weil ihr Herz vor Schrecken einen Schlag aussetzte. Sie wich einen Schritt zurück und stieß einen kurzen Schrei aus, als sie mit der Wade das Gitter des Ofens streifte.
Die langen, schmutzigen Nägel kratzten noch zweimal und verschwanden dann wieder nach unten.
Cordelia hielt unentschlossen inne, wo sie war, dann ging sie zur Tür, blieb aber an der Holzkiste stehen und nahm sich dort ein Stück Holzkohle heraus, das ihr gut in die Hand passte. Für alle Fälle. Dann riss sie die Tür auf, ging zur Hausecke, holte tief Luft und lief dann weiter zur Gartenseite, wobei sie das Stück Holzkohle hoch über den Kopf hob.
»Hinaus, wer immer es ist! Fort, bevor ich…«
Der Anblick, der sich ihr bot, raubte ihr die Stimme: Eine unvorstellbar alte Frau kroch durch die vom Frost abgetöteten Blumen im Beet neben dem Haus – kroch auf sie zu. Das strähnige weiße Haar der Vettel – soweit noch vorhanden – hing ihr ins Gesicht. Eiternde Schwären bedeckten Wangen und Stirn; aus den aufgeplatzten Lippen lief Blut an ihrem spitzen, warzigen Kinn hinab. Die Augäpfel hatten eine schmutzige graugelbe Farbe angenommen, und sie keuchte bei jeder Bewegung wie ein undichter Blasebalg.
»Gute Frau, hilf mir«, keuchte diese Erscheinung. »Hilf mir bitte, bin ich doch fast am Ende.«
Cordelia ließ die Hand mit dem Holzkohlestück sinken. Sie konnte kaum glauben, was sie da sah. »Rhea?«, flüsterte sie. »Ist das Rhea?«
»Aye«, flüsterte Rhea, kroch dabei unerbittlich durch die welken Samtblumen und krallte die Hände in die kalte Erde. »Hilf mir.«
Cordelia wich einen Schritt zurück; der behelfsmäßige Totschläger hing jetzt neben ihr. »Nein, ich… ich kann eine wie Euch nicht in meinem Haus dulden… Es tut mir Leid, Euch so zu sehen, aber… aber ich habe einen Ruf, wisst Ihr… Die Leute haben ein Auge auf mich, das haben sie…«
Sie blickte die Hauptstraße entlang, während sie das sagte, so als rechnete sie damit, eine Reihe der Stadtbewohner an ihrem Zaun zu sehen, die begierig gafften und kaum erwarten konnten, mit ihrem schändlichen und verlogenen Klatsch und Tratsch von dannen zu ziehen, aber es war niemand zu sehen. Hambry war still, die Stege und Fußwege menschenleer, der sonst fröhliche Lärm des Erntejahrmarkts verstummt. Sie sah das Ding wieder an, das durch die welken Blumen kroch.
»Deine Nichte… hat das getan…«, flüsterte das Ding im Dreck. »Alles… ihre Schuld…«
Cordelia ließ das Stück Holzkohle durch die Finger gleiten. Es schürfte ihr die Haut auf, aber das schien sie kaum zu merken. Sie ballte die Hände vor sich zu Fäusten.
»Hilf mir«, flüsterte Rhea. »Ich weiß… wo sie ist… wir… haben eine Arbeit zu erledigen, wir zwei…
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