Der Dunkle Turm 4 - Glas
bis zum Tag seines Todes mit sich herumtrug. Er könne sich nicht erinnern, wer ihn angeschossen habe, sagte er später, oder in welchem Stadium des Kampfes. Er war während der Schießerei außer sich gewesen und konnte sich nur noch verschwommen an das erinnern, was sich alles abgespielt hatte, nachdem der Angriff begonnen hatte. Cuthbert war es in etwa genauso ergangen.
»Roland«, sagte Cuthbert jetzt. Er strich sich mit einer zitternden Hand übers Gesicht. »Heil, Revolvermann.«
»Heil.«
Cuthberts Augen waren rot und gereizt vom Sand, als hätte er geweint. Als Roland ihm die nicht verschossenen silbernen Kugeln für seine Schleuder zurückgab, nahm Cuthbert sie an sich, als wüsste er nicht, worum es sich handelte. »Roland, wir leben noch.«
»Ja.«
Alain sah sich verwundert um. »Wohin sind die anderen verschwunden?«
»Ich würde sagen, mindestens fünfundzwanzig sind dort«, sagte Roland und zeigte auf die Reihe der Toten. »Die anderen…« Er beschrieb mit der Hand, in der er noch den Revolver hielt, einen weiten Halbkreis. »Sie sind auf und davon. Mir dünkt, sie hatten die Nase voll von Mittwelt-Kriegen.«
Roland nahm die Kordel des Beutels von der Schulter, hielt ihn einen Moment vor sich auf dem Sattel und öffnete ihn dann. Einen Augenblick lang blieb die Öffnung des Beutels schwarz, dann erstrahlte ein unregelmäßig pulsierendes, liebliches rosa Licht darin.
Es huschte wie Finger über die glatten Wangen des Revolvermanns und schwamm in seinen Augen.
»Roland«, sagte Cuthbert plötzlich beunruhigt, »ich glaube, du solltest nicht damit herumspielen. Schon gar nicht jetzt. Sie werden die Schüsse am Hanging Rock gehört haben. Wenn wir zu Ende bringen wollen, was wir angefangen haben, dann haben wir keine Zeit für…«
Roland beachtete ihn nicht. Er schob beide Hände in den Beutel und holte die Glaskugel des Zauberers heraus. Er hielt sie sich vor die Augen und merkte nicht, dass er sie dabei mit dem Blut von Jonas verschmierte. Der Kugel schien es nichts auszumachen; es war nicht das erste Mal, dass sie mit Blut in Berührung kam. Sie pulsierte und bildete einen Augenblick lang formlose Strudel, dann öffnete sich der rosa Dunst wie ein Vorhang. Roland sah, was sich dahinter befand, und verlor sich darin.
Kapitel 10
U NTER DEM D ÄMONENMOND (II)
1
Coral hielt Susan hart, aber nicht schmerzhaft am Arm fest. Die Art, wie sie Susan den Flur im Erdgeschoss entlangschob, hatte nichts ungewöhnlich Grausames an sich, aber eine Erbarmungslosigkeit, die niederschmetternd war. Susan unterließ es, Einwände vorzubringen; es wäre vergeblich gewesen. Hinter den beiden Frauen folgten zwei vaqueros (mit Messern und bolas statt mit Schusswaffen bewaffnet; die verfügbaren Schusswaffen hatte Jonas’ Trupp alle mit nach Westen genommen). Hinter den vaqs folgte, wie ein mürrischer Geist, dem es an der notwendigen psychischen Energie fehlte, sich vollständig zu materialisieren, des verstorbenen Kanzlers älterer Bruder Laslo. Reynolds, dem die Lust auf eine kleine Vergewaltigung am Ziel des Ritts durch ein wachsendes Gefühl des Unbehagens gründlich vergangen war, war entweder oben geblieben oder aber in die Stadt gegangen.
»Ich werde dich in die Kühlkammer sperren, bis ich mir darüber im Klaren bin, was ich mit dir anfangen werde, Teuerste«, sagte Coral. »Dort wirst du sicher verwahrt sein… und frisch gehalten. Ein Glück, dass du einen serape trägst. Und dann… wenn Jonas zurückkehrt…«
»Ihr werdet Sai Jonas nicht wiedersehen«, sagte Susan. »Er wird nie mehr…«
Ein frischer Schmerz durchzuckte ihr geschwollenes Gesicht. Einen Augenblick lang kam es ihr so vor, als wäre die ganze Welt explodiert. Susan taumelte gegen die verputzte Steinmauer des Flurs, ihr Blickfeld verschwamm erst und klärte sich dann wieder. Sie konnte Blut aus einer Wunde, die der Stein in Corals Ring bei dem Rückhandschlag gerissen hatte, an ihrer Wange hinablaufen spüren. Und aus ihrer Nase. Dieses verflixte Ding blutete auch wieder.
Coral sah sie auf eine kalte, geschäftsmäßige Weise an, aber Susan glaubte, dass sie noch etwas anderes in den Augen der Frau sehen konnte. Möglicherweise Angst.
»Sprich mir nicht von Eldred, Missy. Er wurde losgeschickt, die Jungs zu fangen, die meinen Bruder ermordet haben. Die Jungs, die du freigelassen hast.«
»Hört auf.« Susan wischte sich die Nase ab, verzog das Gesicht, als sie das Blut in ihrer Handfläche sah, und streifte es dann an
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