Der Dunkle Turm 4 - Glas
anderen Umständen komisch gewirkt hätte. Aber nicht unter den gegenwärtigen; hier handelt es sich um drei Menschen, die sich verzweifelt nach dem Trost von Freunden sehnen.
Roland steht da und betrachtet das Bett an der linken Wand des Zimmers. Er betrachtet es wie hypnotisiert. Vielleicht versucht er sich Marten und seine Mutter darin vorzustellen; vielleicht denkt er an Susan, mit der er nie in einem richtigen Bett geschlafen hat, geschweige denn in einem luxuriösen Himmelbett wie dem hiesigen. Jake kann das verschwommene Profil des Revolvermanns in einem dreiteiligen Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers in einer Nische erkennen. Dieser dreiteilige Spiegel steht vor einem kleinen Tischchen, das Jake aus dem Schlafzimmer seiner Eltern kennt; es ist ein Frisiertisch.
Der Revolvermann schüttelt sich und lässt von den Gedanken ab, die ihn beschäftigt haben mögen. An den Füßen trägt er diese schrecklichen Stiefel; im herrschenden Halbdunkel sehen sie aus wie die Stiefel eines Mannes, der durch Ströme von Blut gewatet ist.
»Mutter!«
Er geht einen Schritt auf das Bett zu und bückt sich dabei sogar etwas, so als dächte er, sie könnte sich darunter verstecken. Aber wenn sie sich versteckt hat, dann nicht dort; die Schuhe, die Jake unter dem Vorhang gesehen hat, waren Damenschuhe, und die Gestalt, die nun am Ende des kurzen Gangs steht, dicht außerhalb der Schlafzimmertür, trägt ein Kleid. Jake kann den Saum sehen.
Und er sieht noch mehr. Jake begreift Rolands gestörte Beziehung zu seiner Mutter und seinem Vater besser, als Eddie oder Susannah es je könnten, weil Jakes Eltern eine eigentümliche Ähnlichkeit mit ihnen haben; Elmer Chambers ist ein Revolvermann des Fernsehsenders, und Megan Chambers hat mit jeder Menge falschen Freunden geschlafen. Das alles wurde Jake nicht gesagt, aber er weiß es irgendwie; er hat Khef mit seiner Mutter und seinem Vater geteilt und weiß, was er weiß.
Und er weiß auch etwas über Roland: dass er seine Mutter in dem Zaubererglas gesehen hat. Es war Gabrielle Deschain, gerade von ihrer Klausur in Debaria zurück, Gabrielle, die ihrem Gemahl nach dem Bankett ihre Fehler gestehen, die seine Verzeihung erflehen und bitten sollte, wieder das Bett mit ihm teilen zu dürfen… Und wenn Steven eindöste, nachdem sie sich geliebt hatten, sollte sie ihm das Messer in die Brust stoßen… oder ihm vielleicht nur leicht den Arm damit ritzen, ohne ihn zu wecken. Bei diesem besonderen Messer würde es auf dasselbe hinauslaufen.
Roland hat das alles in der Glaskugel gesehen, bevor er das abscheuliche Ding schließlich seinem Vater übergeben hat, und Roland hatte dem allen ein Ende gemacht. Um Steven Deschains Leben zu retten, hätten Eddie und Susannah gesagt, hätten sie die Sache so weit durchschaut, aber Jake besitzt das unglückliche Wissen unglücklicher Kinder und sieht weiter. Auch um das Leben seiner Mutter zu retten. Um ihr eine letzte Gelegenheit zu geben, wieder zu Verstand zu kommen, eine letzte Gelegenheit, zu ihrem Mann zu stehen und wahrhaftig zu sein. Eine letzte Gelegenheit, Marten Broadcloak zu entsagen.
Das wird sie gewiss, das muss sie! Roland sah ihr Gesicht an jenem Tag, wie unglücklich sie war, und darum muss sie es ganz bestimmt! Ganz sicher kann sie sich nicht für den Magier entschieden haben! Wenn er ihr nur begreiflich machen könnte…
Roland merkt nicht, dass er wieder der Unwissenheit der Jugend verfallen ist – er kann nicht begreifen, dass Unglück und Scham häufig keine angemessenen Gegner der Begierde sind –, und darum ist er hergekommen, um mit seiner Mutter zu sprechen, um sie anzuflehen, zu ihrem Mann zurückzukehren, bevor es zu spät ist. Er hat sie schon einmal vor sich selbst gerettet, das wird er ihr sagen, aber ein weiteres Mal wird er es nicht tun können.
Und wenn sie immer noch nicht zurückwill, denkt Jake, oder versucht, es abzustreiten, so zu tun, als wüsste sie nicht, wovon er spricht, wird er sie vor die Wahl stellen: Gilead mit seiner Hilfe zu verlassen – jetzt, noch heute Nacht – oder morgen in Ketten gelegt zu werden – wegen eines so ungeheuerlichen Verrats, dass man sie mit Sicherheit so wie Hax den Koch hängen wird.
»Mutter!«, ruft er und sieht immer noch nicht die Gestalt, die hinter ihm im Schatten steht. Er geht noch einen Schritt in das Zimmer, und nun bewegt sich die Gestalt. Die Gestalt hebt die Hand. Sie hält etwas in der Hand. Keinen Revolver, das kann Jake sehen, aber es sieht
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