Der Dunkle Turm 4 - Glas
»Sie hatte eine Großtante mütterlicherseits, die den Verstand verloren hat… Hast du das nicht gewusst? Doch! Hat sich selbst in Brand gesteckt und die Schräge hinabgestürzt. Im Jahre des Kometen war das.«
»Jedenfalls«, fuhr Will fort, »hat uns Mr. Heath ein Sprichwort seines Vaters mit auf den Weg gegeben – ›Man sollte im Fegefeuer meditieren‹. Und hier wären wir also.«
»Hambry ist keineswegs das Fegefeuer.«
Er deutete wieder seine komische kleine Verbeugung an. »Wäre es das Fegefeuer, würden bestimmt alle böse genug sein wollen, um hierher kommen und die hübschen Einwohnerinnen kennen lernen zu dürfen.«
»Arbeitet noch ein bisschen daran«, sagte sie mit ihrer sprödesten Stimme. »Ich fürchte, sie ist noch nicht ganz perfekt. Vielleicht…«
Sie verstummte, als ihr mit Bestürzung klar wurde: Sie musste hoffen, dass sich dieser Junge auf eine kleine Verschwörung mit ihr einließ. Andernfalls würde sie in Verlegenheit kommen.
»Susan?«
»Ich habe nur nachgedacht. Seid Ihr schon hier, Will? Offiziell, meine ich?«
»Nein«, sagte er und begriff sofort, was sie meinte. Und sah bereits, worauf es hinauslief. Auf seine Weise schien er durchaus gescheit zu sein. »Wir sind erst heute Nachmittag in der Baronie eingetroffen, und Ihr seid der erste Mensch, mit dem einer von uns gesprochen hat… es sei denn, Richard und Arthur haben hier inzwischen irgendwelche Leute kennen gelernt. Ich konnte nicht schlafen, darum bin ich ein bisschen ausgeritten, um über alles nachzudenken. Unser Lager befindet sich da drüben.« Er zeigte nach rechts. »Auf jenem langen Hang, der zum Meer hinabführt.«
»Aye, er heißt die Schräge.« Ihr wurde klar, dass Will und seine Kameraden möglicherweise an der Stelle ihr Lager aufgeschlagen hatten, die in kurzer Zeit per Gesetz ihr eigenes Land sein würde. Der Gedanke war amüsant und aufregend, aber auch ein kleines bisschen erschreckend.
»Morgen reiten wir in die Stadt und überreichen dem Lord Bürgermeister Hart Thorin unsere Empfehlung. Nach allem, was man uns gesagt hat, bevor wir Neu-Kanaan verlassen haben, soll er ein Narr sein.«
»Hat man Euch das tatsächlich gesagt?«, fragte sie und zog eine Braue hoch.
»Ja – neigt zur Schwatzhaftigkeit, liebt starke Getränke, aber noch mehr liebt er junge Mädchen«, sagte Will. »Stimmt das, was würdet Ihr sagen?«
»Ich finde, davon solltet Ihr Euch selbst ein Bild machen«, sagte sie und unterdrückte mühsam ein Lächeln.
»Wie auch immer, wir werden auch dem Ehrenwerten Kimba Rimer unsere Aufwartung machen, Thorins Kanzler, und soweit ich weiß, kennt der seine Schäfchen. Und zählt seine Schäfchen.«
»Thorin wird Euch zum Abendessen ins Haus des Bürgermeisters einladen«, sagte Susan. »Vielleicht nicht gleich morgen Abend, aber sicher am Abend danach.«
»Ein Staatsempfang in Hambry«, sagte Will, der lächelnd immer noch Rushers Nüstern streichelte. »Ihr Götter, wie soll ich nur die Qual meiner Vorfreude ertragen?«
»Hütet Euer Schandmaul«, sagte sie, »aber hört gut zu, wenn Ihr mein Freund seid. Es ist sehr wichtig.«
Das Lächeln verschwand, und sie sah wieder – wie kurz zuvor – den Mann, zu dem er in nicht allzu vielen Jahren heranreifen würde. Das harte Gesicht, die konzentrierten Augen, der gnadenlose Mund. Es war ein in jeder Hinsicht beängstigendes Gesicht – eine beängstigende Aussicht –, und doch wurde die Stelle wieder warm, wo die alte Vettel sie angefasst hatte, und sie konnte den Blick kaum von ihm abwenden. Wie, fragte sie sich, mochte sein Haar unter dem albernen Hut aussehen, den er trug?
»Heraus damit, Susan.«
»Wenn Ihr und Eure Freunde bei Thorin am Tisch sitzt, werdet Ihr mich vielleicht sehen. Wenn Ihr mich seht, Will, seht mich zum ersten Mal. Seht Miss Delgado, so wie ich Mr. Dearborn sehen werde. Habt Ihr meine Worte verstanden?«
»Voll und ganz.« Er sah sie nachdenklich an. »Gehört Ihr zum Gesinde? Wenn Euer Vater der Oberste Herdenführer der Baronie war, müsst Ihr doch sicher nicht…«
»Kümmert Euch nicht darum, was ich tue oder lasse. Versprecht mir nur, dass wir uns zum ersten Mal begegnen, wenn wir uns in Seafront begegnen.«
»Ich verspreche es. Aber…«
»Keine Fragen mehr. Wir haben die Stelle fast erreicht, wo unsere Wege sich trennen müssen, und ich möchte Euch noch eine Warnung mitgeben – womöglich als gerechten Lohn für den Ritt auf Eurem wunderschönen Pferd. Wenn Ihr mit Thorin und Rimer speist,
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