Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Callahans Geist schien plötzlich frei zu sein – freier als seit vielen Jahren. Oder vielleicht war es sein Herz, das befreit worden war. Jedenfalls schienen seine Gedanken sehr klar zu sein, als er die Bowlingtasche jetzt auf die zusammengefalteten Reinigungshüllen auf der Ablage über dem Safe stellte.
Er erinnerte sich an eine Unterhaltung in der Gasse hinter dem Home. Das Gespräch war daraufgekommen, wie man in New York Wertsachen aufbewahren konnte – vor allem, wenn man für längere Zeit verreisen musste –, und Magruder hatte gesagt, der sicherste Aufbewahrungsort in New York… der absolut sicherste Aufbewahrungsort…
»Jake, im Safe steht auch eine Tasche mit Tellern.«
»Orizas?«
»Ja. Nimm sie heraus.« Während der Junge das tat, ging Callahan zu dem Zimmermädchen auf dem Bett und griff in dessen linke Uniformtasche. Er holte ein paar Magnetkarten, mehrere richtige Schlüssel und Pfefferminzbonbons einer ihm unbekannten Marke – Altoids – heraus.
Er drehte die Frau um. Es war, als würde man eine Leiche umdrehen.
»Was tust du da?«, flüsterte Jake. Er hatte Oy abgesetzt, damit er sich die mit Seide gefütterte Schilftasche über die Schulter hängen konnte. Sie war schwer, aber er fand ihr Gewicht beruhigend.
»Ich raube sie aus, das siehst du doch«, antwortete der Pere aufgebracht. »Father Callahan von der heiligen römisch-katholischen Kirche raubt ein Zimmermädchen aus. Oder würde es tun, wenn sie… ah!«
In der anderen Rocktasche steckte das kleine Bündel Geldscheine, auf das er gehofft hatte. Sie war zum Etagendienst unterwegs gewesen, als Oys Kläffen sie abgelenkt hatte. Zu den Aufgaben gehörte, dass man die Toilettenspülung betätigte, die Vorhänge zuzog, das Bett aufdeckte und die vom Personal als »Kissenkonfekt« bezeichneten Süßigkeiten zurückließ. Manchmal gaben Gäste dafür ein Trinkgeld. Dieses Zimmermädchen hatte zwei Zehner, drei Fünfer und vier Dollarscheine in der Tasche.
»Die bekommst du zurück, falls unsere Wege sich noch einmal kreuzen«, erklärte Callahan der Bewusstlosen. »Andernfalls betrachtest du sie am besten einfach als deinen Dienst an Gott.«
»Das Weiiiiße«, sagte das Zimmermädchen im undeutlichen Flüsterton eines Menschen, der redet und doch schläft.
Callahan und Jake wechselten einen Blick.
11
Als sie mit dem Aufzug hinunterfuhren, trug Callahan die Tasche mit der Schwarzen Dreizehn in der Hand, und Jake hatte die mit den Rizas über der Schulter hängen. Der Pere verwahrte auch beider Geld. Sie besaßen jetzt insgesamt achtundvierzig Dollar.
»Reicht unser Geld dafür?« Das war seine einzige Frage, nachdem er gehört hatte, wie der Pere die Kugel loswerden wollte – ein Plan, der einen weiteren Zwischenstopp bedingte.
»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch egal«, antwortete Callahan. Obwohl sie den Aufzug für sich allein hatten, sprachen sie mit leisen Verschwörerstimmen. »Wenn ich es schon schaffe, ein schlafendes Zimmermädchen auszurauben, dann müsste es doch ein Kinderspiel sein, einen Taxifahrer mit einem Stück Eisenrohr niederzuschlagen.«
»Yeah«, sagte Jake. Er dachte daran, dass Roland auf seiner Suche nach dem Dunklen Turm mehr getan hatte, als nur ein paar Unschuldige auszurauben; er hatte auch nicht wenige umgebracht. »Ich schlage vor, dass wir die Sache möglichst schnell erledigen und dann das Dixie Pig suchen.«
»Du brauchst dir wirklich nicht so viele Sorgen zu machen«, sagte Callahan. »Wenn der Turm einstürzt, wirst du zu den Allerersten gehören, die davon erfahren.«
Jake betrachtete den Pere ernst. Ein paar Augenblicke später begann Callahan zu grinsen. Dagegen war er machtlos.
»Echt witzig, Sai«, sagte Jake, und sie traten ins Dunkel jener Frühsommernacht des Jahres 1999 hinaus.
12
Es war Viertel vor neun, und jenseits des Hudsons war der Abendhimmel noch immer ein wenig hell, als sie das erste ihrer beiden Ziele erreichten. Das Taxameter zeigte neun Dollar und fünfzig Cent an. Callahan gab dem Fahrer zwei der Fünfer des Zimmermädchens.
»He, Mahn, heb dir bloß kein Bruch«, sagte der Taxifahrer mit starkem jamaikanischem Akzent. »Hab schlimm Angst, du könnst dann blank sein.«
»Sie können von Glück sagen, dass Sie überhaupt was kriegen, mein Junge«, sagte Callahan freundlich. »Wir besichtigen New York mit schmalem Geldbeutel.«
»Mein Frau hat auch ‘n Geldbeutel«, sagte der Mann und fuhr davon.
Jake sah inzwischen nach oben.
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