Der Dunkle Turm 6 - Susannah
nicht stimmte. Ihre eigenen Füße, die unter dem Körper von Odetta Holmes (und manchmal von Detta Walker) gehorsam durchs Leben marschiert waren, existierten längst nicht mehr, waren verwest oder – was wahrscheinlicher war – in irgendeinem städtischen Verbrennungsofen in Rauch aufgegangen.
Die Farbveränderung fiel ihr immer noch nicht auf. Allerdings würde sie später denken: Du hast sie bemerkt, klar. Du hast sie bemerkt und sofort ausgeblendet. Weil zu viel einfach zu viel ist.
Bevor sie die ebenso philosophische wie physische Fragestellung, auf wessen Füßen sie jetzt stand, weiter verfolgen konnte, setzten erneut Wehenschmerzen ein. Sie sorgten dafür, dass sich ihr der Magen verkrampfte, und machten ihn zu Stein, während sie ihr andererseits die Schenkel lockerten. Zum ersten Mal fühlte sie den bestürzenden und erschreckenden Drang, zu pressen.
Du musst dafür sorgen, dass sie aufhören!, rief Mia aus. Weib, das musst du! Um des kleinen Kerls willen, aber auch um unsertwillen!
Ja, gewiss, aber wie?
Mach die Augen zu, forderte Susannah sie auf.
Was? Hast du mich nicht gehört? Du musst…
Ich habe dich gehört, sagte Susannah. Mach die Augen zu.
Der Park verschwand. Die Welt wurde dunkel. Sie war eine Schwarze, noch jung und von unzweifelhafter Schönheit, die auf einer Parkbank neben einem Springbrunnen und einer Metallschildkröte mit nass glänzendem Metallpanzer saß. An diesem warmen Frühsommernachmittag des Jahres 1999 saß sie da, als würde sie lediglich meditieren wollen.
Ich gehe jetzt eine Weile fort, sagte Susannah. Ich komme zurück. Bis dahin bleibst du, wo du bist. Bleib still sitzen. Beweg dich nicht. Die Schmerzen müssten wieder abklingen, aber selbst wenn sie es anfangs nicht tun, musst du sitzen bleiben. Bewegung würde sie nur verschlimmern. Hast du verstanden?
Mia mochte verängstigt sein, und sie war entschlossen, mit aller Macht ihren Willen durchzusetzen, aber sie war nicht dumm. Sie stellte nur eine einzige Frage.
Wohin gehst du?
In den Dogan zurück, sagte Susannah. In meinen Dogan. Den in meinem Inneren.
2
Das Gebäude, das Jake am anderen Ufer des Flusses Whye entdeckt hatte, war irgendein alter Kommunikations- und Überwachungsposten gewesen. Obwohl der Junge ihnen die Einrichtung ziemlich genau beschrieben hatte, hätte er die Version, die Susannah sich vorstellte, vielleicht trotzdem nicht erkannt, weil sie auf einem Technikverständnis basierte, das nur dreizehn Jahre später, als Jake aus New York nach Mittwelt gekommen war, bereits hoffnungslos veraltet gewesen war. In Susannahs Wann war Lyndon B. Johnson US-Präsident und Farbfernsehen noch eine Kuriosität gewesen. Computer waren Riesendinger, die ganze Gebäude ausfüllten. Andererseits hatte Susannah die Stadt Lud besucht und einige der dortigen Wunder gesehen, und deshalb hätte Jake den Ort, an dem er sich vor Ben Slightman und Andy dem Kurierroboter versteckt hatte, vielleicht doch wiedererkannt.
Bestimmt wiedererkannt hätte er den staubigen Linoleumboden mit seinem Schachbrettmuster aus schwarzen und roten Quadraten und die Bürostühle auf Rollen vor Konsolen mit blinkenden Lichtern und leuchtenden Anzeigen. Und er hätte das Skelett in der Ecke erkannt, das über dem ausgefransten Kragen seines uralten Uniformhemds grinste.
Sie durchquerte den Raum und setzte sich auf einen der Stühle. Über ihr zeigten Schwarz-Weiß-Bildschirme Dutzende von Bildern. Manche zeigten die Calla Bryn Sturgis (den Stadtanger, Callahans Kirche, den Gemischtwarenladen, die nach Osten aus der Stadt führende Straße). Manche waren Standfotos, die wie Atelieraufnahmen wirkten: eines von Roland, eines von einem lächelnden Jake, der Oy in den Armen hielt, und eines – sie konnte es kaum ertragen, dieses Bild anzusehen – von Eddie, der seinen Hut in Cowboymanier aus der Stirn geschoben hatte und sein Schnitzmesser in der Hand hielt.
Ein weiterer Bildschirm zeigte ihr die schlanke Schwarze, die auf der Bank neben der Schildkröte saß: mit zusammengedrückten Knien, die Hände auf dem Schoß gefaltet, die Augen geschlossen, ein Paar geraubter Schuhe an den Füßen. Sie hatte jetzt drei Taschen: die Leinentasche, die sie der Frau auf der Second Avenue geraubt hatte, die Schilftasche mit den Orizas darin… und eine Bowlingtasche. Diese Tasche in verblasstem Rot enthielt etwas mit quadratisch angeordneten Ecken. Einen Kasten. Ihn auf dem Bildschirm zu sehen, machte Susannah zornig, als wäre sie
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