Der Dunkle Turm 6 - Susannah
gehabt. Beim Lunch.«
»Sehr wohl, Madam. Einen Augenblick, bitte, ich sehe gleich nach.« Die Frau trat an etwas heran, das wie ein kleiner Fernsehschirm mit davor angebrachter Tastatur aussah. Sie tippte eine Anfrage ein, sah auf den Bildschirm und sagte dann: »Susannah Mia Dean, ist das richtig?«
Ihr sprecht wahr, sage Euch meinen Dank, hätte Susannah beinahe gesagt, aber sie unterdrückte diese Regung. »Ja, das stimmt.«
»Dürfte ich um einen Ausweis bitten?«
Susannah war einen Augenblick lang verdattert. Dann griff sie in die Schilftasche und zog einen Oriza heraus, wobei sie darauf achtete, den stumpfen Teil des Tellerrands anzufassen. Sie musste unwillkürlich daran denken, was Roland unter anderem einmal zu Wayne Overholser, dem großen Farmer der Calla, gesagt hatte: Wir sind Reisende in Blei. Die ‘Rizas waren keine Kugeln, aber doch in vieler Beziehung gleichwertig. Sie hielt den Teller mit einer Hand und die geschnitzte kleine Schildkröte mit der anderen hoch.
»Genügt der?«, fragte sie freundlich.
»Was…?« Die schöne Empfangsdame verstummte, als ihr Blick vom Teller auf die Schildkröte fiel. Ihre Augen weiteten sich und wurden leicht glasig. Ihre Lippen, die mit einem interessanten Glanzlack in Pink überzogen waren (der Susannah mehr an Zuckerguss als an Lippenstift erinnerte) teilten sich. Sie entließen ein sanftes Ohhhhh…
»Das ist mein Führerschein«, sagte Susannah. »Sehen Sie?« Zum Glück war jetzt niemand in der Nähe, nicht einmal ein Page. Die spät abreisenden Gäste waren alle draußen auf dem Gehsteig, wo sie ein Taxi zu bekommen versuchten; hier drinnen lag die Hotelhalle in einer Art Halbschlaf. In der Bar hinter der Geschenkboutique folgte auf »Night and Day« eine träge und versonnene Version von »Stardust«.
»Führerschein«, bestätigte die Empfangsdame in demselben verwundert seufzenden Ton.
»Gut. Müssen Sie irgendwas notieren?«
»Nein… Mr. van Wyck hat das Zimmer gebucht… ich brauche nur Euren… Euren Ausweis zu überprüfen… Darf ich die Schildkröte einmal halten, Ma’am?«
»Nein«, sagte Susannah, und sofort fing die Empfangsdame an zu weinen. Susannah nahm dieses Phänomen etwas verwirrt in sich auf. Sie glaubte nicht, dass sie seit ihrem katastrophalen Auftritt als Geigerin im Alter von zwölf Jahren (ihrem ersten und zugleich letzten Konzert) jemals wieder in so kurzer Zeit so viele Leute zum Weinen gebracht hatte.
»Nein, ich darf sie nicht halten«, sagte die Empfangsdame laut schluchzend. »Nein, nein, das darf ich nicht, ich darf sie nicht halten, ach, Discordia, ich darf sie nicht…«
»Schluss jetzt mit dem Gegreine«, sagte Susannah, worauf die Empfangsdame sofort den Mund hielt. »Geben Sie mir bitte den Schlüssel.«
Statt eines Schlüssels gab die Eurasierin ihr jedoch eine Plastikkarte in einem Mäppchen. Auf der Innenseite – damit potenzielle Diebe nicht so leicht einen Blick darauf erhaschen konnten, wie Susannah vermutete – stand die Zimmernummer: 1919. Das überraschte sie keineswegs. Wohingegen Mia das natürlich völlig egal war.
Sie kam etwas ins Taumeln. Schwankte ein bisschen. Musste mit einer Hand (mit der, in der sie ihren »Führerschein« hielt) wedeln, um das Gleichgewicht zu halten. Einen Augenblick lang fürchtete sie gar, sie könnte zu Boden gehen, aber dann war wieder alles in Ordnung.
»Ma’am?«, sagte die Empfangsdame. Sie wirkte distanziert – sehr distanziert – besorgt. »Alles in Ordnung mit Euch?«
»Schon gut«, sagte Susannah. »Hab nur… einen Augenblick das Gleichgewicht verloren.«
Was zum Teufel war das bloß?, fragte sie sich. Oh, sie kannte sehr wohl die Antwort darauf. Mia war diejenige, die Beine hatte, Mia. Susannah hatte den Ton angegeben, seit sie dem alten Mr. Darf-ich-die-Skölpadda-anfassen begegnet waren, und ihr Körper begann jetzt, in seinen beinlosen Zustand zurückzufallen. Verrückt, aber wahr. Ihr Körper war dabei, sich Susannah entsprechend zu verhalten.
Mia, du musst vortreten. Du musst das Kommando übernehmen.
Das geht nicht. Noch nicht. Ich tu es, sobald wir allein sind.
O Gott, Susannah kannte diesen Ton, erkannte ihn sehr wohl. Das Weibsbild war schüchtern.
Zur Empfangsdame gewandt sagte Susannah: »Was ist das für ein Ding hier? Ist das ein Schlüssel?«
»Oh, gewiss, Sai. Man benutzt ihn im Aufzug ebenso wie an der Zimmertür. Einfach in Pfeilrichtung in den Schlitz stecken und gleich wieder herausziehen. Sobald das grüne Lämpchen im
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