Der Dunkle Turm 6 - Susannah
Ja, sie würde jemand anderem die Verantwortung überlassen, warum auch nicht? Sollte ruhig jemand anders für gewisse Zeit die Führung übernehmen. Sie konnte bereits spüren, wie ihre Beine wieder an Kraft und Substanz gewannen, und das genügte ihr vorerst.
5
Mia mochte eine Fremde in einem fremden Land sein, aber sie lernte zügig. Im neunzehnten Stock fand sie im Vorraum vor den Aufzügen den Pfeil mit den Ziffern 1911-1923 darunter und ging rasch den Korridor zu Zimmer 1919 entlang. Der Teppichboden, irgendein hochfloriges Zeug, das herrlich weich war, flüsterte unter ihren
(ihrer beiden)
geraubten Schuhen. Sie steckte die Schlüsselkarte ins Schloss, öffnete die Tür und betrat das Zimmer. Hier gab es zwei Betten. Sie legte die Taschen auf eines davon, sah sich ohne allzu großes Interesse um und fixierte dann das Telefon.
Susannah! Ungeduldig.
Was ist?
Was muss ich tun, damit es klingelt?
Susannah lachte aufrichtig belustigt. Glaub mir, Schätzchen, das fragst du nicht als Erste. Auch nicht gar nur als Millionste. Es klingelt, oder es klingelt eben nicht. Immer nur, wann es will. Bis dahin könntest du dich ein bisschen umsehen. Vielleicht einen Platz finden, an dem du deine Gunna verstauen kannst.
Der erwartete Widerspruch blieb aus. Mia streifte durchs Zimmer (ohne sich die Mühe zu machen, die Vorhänge aufzuziehen, obwohl Susannah die Stadt sehr gern einmal aus dieser Höhe betrachtet hätte), warf einen Blick ins Bad (palastartig, mit einem Waschbecken, das aus Marmor zu sein schien, und überall Spiegel) und sah dann in den Einbaukleiderschrank. Unter einer Ablage mit Wäsche- und Reinigungsbeuteln war dort ein kleiner Safe angebracht. Auf der Tür klebte eine Mitteilung, die Mia jedoch nicht lesen konnte. Roland hatte manchmal ähnliche Probleme, die jedoch auf die Unterschiede zwischen dem lateinischen Alphabet und den »Großen Buchstaben« von Innerwelt zurückzuführen waren. Susannah hatte den Verdacht, dass Mias Probleme da viel grundlegender waren; obwohl ihre Entführerin offenbar Zahlen kannte, vermutete Susannah, dass die Mutter des kleinen Kerls überhaupt nicht lesen konnte.
Susannah kam nach vorn, aber nicht völlig. Sekundenlang betrachtete sie dabei durch zwei Augenpaare zwei Schilder – eine so seltsame Wahrnehmung, dass ihr davon schwindlig zu werden drohte. Dann vereinigten die Bilder sich, und sie konnte den Text entziffern:
DIESER SAFE STEHT IHNEN FÜR IHR PERSÖNLICHES
EIGENTUM ZUR VERFÜGUNG
DIE DIREKTION DES PLAZA-PARK HYATT
ÜBERNIMMT KEINERLEI HAFTUNG FÜR DARIN
ZURÜCKGELASSENE WERTSACHEN
BARGELD UND SCHMUCK SOLLTEN IM HOTELSAFE
DEPONIERT WERDEN
CODE EINSTELLEN: EINE VIERSTELLIGE ZAHL
EINGEBEN UND ENTER DRÜCKEN
SAFE ÖFFNEN: VIERSTELLIGEN CODE EINGEBEN
UND ÖFFNEN DRÜCKEN
Susannah zog sich zurück und ließ Mia eine vierstellige Zahl wählen. Wie sich herausstellte, bestand sie aus einer Eins und drei Neunen. Sie bezeichnete das laufende Jahr und gehörte damit vermutlich zu den ersten Kombinationen, die ein Einbrecher ausprobiert hätte, aber sie war wenigstens nicht ganz identisch mit der Zimmernummer. Außerdem waren das die richtigen Ziffern. Machtvolle Ziffern. Ein Sigul. Das war beiden klar.
Mia rüttelte an der Safetür, nachdem sie den Zahlencode eingegeben hatte, fand sie fest verschlossen und öffnete sie dann, indem sie der Bedienungsanleitung folgte. Irgendwo im Inneren des Safes surrte etwas, dann sprang die Tür auf. Sie stellte die verblasste rote Tasche von MIDTOWN-BAHNEN hinein – der Kasten darin füllte den Safe ziemlich aus – und fand daneben noch Platz für die Schilftasche mit den Oriza-Tellern. Sie schloss die Safetür wieder, verriegelte sie, zog am Türgriff, stellte fest, dass er nicht nachgab, und nickte zufrieden. Die Leinentasche von Borders lag noch auf dem Bett. Sie holte den Packen Geldscheine heraus und stopfte ihn mit der Schildkröte in die rechte vordere Tasche ihrer Jeans.
Müssen uns eine saubere Bluse besorgen, erinnerte Susannah ihren unwillkommenen Gast.
Mia, niemands Tochter, gab keine Antwort. Blusen, sauber oder schmutzig, waren ihr offenbar schnuppe. Mia betrachtete das Telefon. Da ihre Wehen vorläufig ausgesetzt hatten, interessierte sie sich nur noch für das Telefon.
Jetzt palavern wir, sagte Susannah. Du hast es versprochen, und dieses Versprechen wirst du halten. Aber nicht in jenem Bankettsaal. Sie schüttelte sich. Irgendwo im Freien, ich bitte dich. Ich brauche frische
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