Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
dem Minipark war es friedlich, aber nicht völlig still.
»Hörst du auch Leute singen?«, fragte Mrs. Tassenbaum mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Einen Chor von irgendwoher?«
»Darauf kannst du deinen letzten Dollar verwetten«, antwortete Roland, bereute das aber sofort. Die Redensart hatte er von Eddie, und es schmerzte, dessen Worte zu sprechen. Er trat zur Schildkröte und ließ sich dort auf ein Knie nieder, um sie genauer betrachten zu können. Von ihrem Maul fehlte ein winziges Stück, so als hätte sie dort eine Art Zahnlücke. Auf dem Panzer war ein Kratzer zu sehen, der wie ein Fragezeichen aussah, und verblassende rosa Buchstaben.
»Was steht da?«, fragte Irene Tassenbaum. »Irgendwas von einer Schildkröte, aber mehr kann ich nicht entziffern.«
»›Sieh der SCHILDKRÖTE gewaltige Pracht.‹« Das wusste er, ohne es lesen zu müssen.
»Was bedeutet das?«
Roland stand auf. »Mehr, als ich dir im Augenblick erklären kann. Möchtest du hier auf mich warten, während ich dort drüben hineingehe?« Er nickte zu dem Turm hinüber, dessen schwarze Glasfassade in der Sonne glänzte.
»Ja«, sagte sie, »gern. Ich bleib einfach hier auf der Bank in der Sonne sitzen und warte auf dich. Es ist … erfrischend. Klingt das verrückt?«
»Nein«, sagte er. »Sollte dich jemand ansprechen, dessen Aussehen du nicht traust, Irene – das ist zwar wenig wahrscheinlich, weil das hier ein sicherer Ort ist, aber immerhin denkbar –, konzentrierst du dich einfach ganz stark und rufst mich.«
Sie machte große Augen. »Redest du von ASW?«
Er wusste nicht, was die Abkürzung ASW bedeutete, aber er verstand, was sie damit meinte, und nickte.
»Das würdest du hören? Mich hören?«
Dafür konnte er natürlich nicht garantieren. Das Gebäude konnte mit Abschirmgeräten ausgestattet sein, die wie die Denkerkappen der Can-Toi funktionierten und das unmöglich machten.
»Ich glaube schon. Aber dass du belästigt wirst, ist wie gesagt unwahrscheinlich. Dies ist ein sicherer Ort.«
Sie betrachtete wieder die Schildkröte, deren Panzer vom Wassernebel des Springbrunnens glänzte. »Das ist er wirklich, nicht wahr?« Sie lächelte kurz, wurde dann aber wieder ernst. »Du kommst doch zurück, oder? Du würdest mich nicht verlassen, ohne mir wenigstens …« Sie zuckte die Achseln, eine Geste, die sie sehr jung aussehen ließ. »Ohne mir wenigstens Lebewohl zu sagen?«
»Niemals. Was ich drüben im Turm zu erledigen habe, dürfte nicht lange dauern.« In Wirklichkeit hatte er dort kaum etwas zu erledigen … das heißt, falls die gegenwärtige Führung der Tet Corporation nicht etwas mit ihm zu besprechen hatte. »Wir haben anschließend noch ein weiteres Ziel. Dort werden Oy und ich dann von dir Abschied nehmen.«
»Okay«, sagte sie und setzte sich – mit dem Bumbler zu ihren Füßen – auf die Parkbank. Die Sitzfläche war feucht, und sie trug eine neue Sommerhose (bei derselben blitzartigen Einkaufstour erstanden, der Roland das Hemd und die Jeans verdankte), aber das störte sie nicht. An einem so warmen, sonnigen Tag würde der leichte Stoff sofort wieder trocknen, und sie merkte einfach, dass sie das Bedürfnis hatte, der Schildkrötenskulptur so nahe wie möglich zu sein. Um ihre winzigen, zeitlosen schwarzen Augen studieren zu können, während sie diesen lieblichen Stimmen lauschte. Das Ganze würde sehr erholsam sein, glaubte sie. Das war zwar kein Begriff, den sie normalerweise mit New York in Verbindung brachte, aber mit seiner ruhigen, friedlichen Atmosphäre war dieser kleine Park auch irgendwie ein für New York sehr untypischer Ort. Sie malte sich aus, einmal mit David hierher zu kommen; vielleicht konnte er sich dann auf dieser Bank sitzend die Geschichte von ihrem dreitägigen Verschwinden anhören, ohne sie für verrückt zu halten. Oder zumindest für allzu verrückt.
Roland brach auf. Er bewegte sich mit der mühelosen Geschmeidigkeit eines Menschen, der Tage und Wochen gehen konnte, ohne dabei sein Tempo zu verändern. Ihn möchte ich nicht auf den Fersen haben, dachte sie und empfand bei dieser Vorstellung einen leisen Schauder. An dem schmiedeeisernen Gatter, durch das er auf den Gehsteig treten würde, blieb er stehen und wandte sich ihr noch einmal zu. Dann sprach er in einem weichen Singsang:
»Sieh der SCHILDKRÖTE gewaltige Pracht!
Auf deren Panzer die Welt gemacht.
Klar ist ihr Denken und stets rein,
Schließt uns alle darin ein.
Sie hört die
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