Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
können, um ihn auf die Schulter zu tippen. Und auf diesem Marmorboden hätte er doch hören müssen, dass …
Obwohl die junge (und bildschöne) Frau, die sich ihm genähert hatte, von seiner jähen Reaktion sichtlich überrascht war, trafen seine Hände, die nach vorn schossen, um sich auf ihre Schultern zu legen, nur auf leere Luft und danach mit sanftem Klatschen – das von der hohen Decke widerhallte, die mindestens so hoch war wie die von der Wiege von Lud – auf sich selbst. Die grünen Augen der Frau waren groß und hellwach, und er hätte geschworen, dass aus ihnen keine böse Absicht sprach, aber dass er erst so überrascht worden war und sie dann verfehlt hatte …
Er sah auf die Füße der jungen Frau hinunter und erhielt dadurch zumindest eine Teilantwort. Sie trug Schuhe, wie er noch nie welche gesehen hatte: Leinenschuhe mit dicken Kreppsohlen. Damit konnte man sich auf harten Böden so lautlos wie mit den weichsten Mokassins bewegen.
Während er sie betrachtete, empfand er eine seltsame doppelte Gewissheit: erstens, dass er »das Schiff, auf dem sie angekommen ist« gesehen hatte, wie eine Familienähnlichkeit in Calla Bryn Sturgis manchmal beschrieben wurde, und zweitens, dass es auch auf dieser Welt, dieser speziellen Fundamentalen Welt, eine Gesellschaft von Revolvermännern gab und eben eines ihrer Mitglieder an ihn herangetreten war.
Und wo hätte diese Begegnung besser stattfinden können als in Sichtweite der Rose?
»Ich sehe Euren Vater in Eurem Gesicht, aber mir will nicht recht der Name einfallen«, sagte Roland halblaut. »Sagt mir, wer er war, wenn’s beliebt.«
Die Frau lächelte, worauf Roland beinahe auf den Namen kam, den er suchte. Dann entschwand er aber wieder, wie solche Dinge es oft taten: Erinnerungen konnten scheu sein. »Sie sind ihm nie begegnet … obwohl ich verstehe, weshalb Sie glauben, ihn gekannt zu haben. Meinen Namen sage ich Ihnen später, wenn Sie wollen, aber jetzt soll ich Sie zunächst einmal nach oben begleiten, Mr. Deschain. Dort erwartet Sie jemand, der mit Ihnen …« Sie wirkte einen Augenblick lang verlegen, so als hätte sie den Verdacht, dass jemand sie angewiesen hatte, ein bestimmtes Wort zu benutzen, damit sie ausgelacht werden würde. Dann bildeten sich Grübchen in ihren Wangen, und ihre grünen Augen blitzten bezaubernd, als dächte sie: Wenn sich jemand über mich lustig machen will, soll er in Gottes Namen doch. »… jemand, der mit Ihnen palavern möchte«, schloss sie.
»Nun denn«, sagte er.
Sie berührte ihn leicht an der Schulter, als wollte sie ihn noch kurz in der Eingangshalle festhalten. »Ich soll dafür sorgen, dass Sie zuerst das Schild im Garten des Balkens lesen«, erklärte sie ihm. »Wollen Sie das bitte tun?«
Rolands Antwort klang trocken, aber trotzdem leicht entschuldigend. »Ich will’s gern versuchen«, sagte er, »aber ich habe immer Probleme mit eurer Schriftsprache, obwohl ich mich mündlich ganz gut verständigen kann, wenn ich hier drüben bin.«
»Ich glaube, Sie werden den Text lesen können«, antwortete sie. »Versuchen Sie’s nur.« Und abermals berührte sie seine Schulter, drehte ihn sanft zu dem quadratischen Beet mitten in der Eingangshalle um – mit seiner dunklen Erde, die nicht Gärtner mit Schubkarren hereingefahren hatten, sondern die tatsächlich der Boden war, aus dem die Rose ursprünglich gewachsen war. Die Erde war vermutlich abgerecht, aber sonst nicht verändert worden.
Anfangs hatte er mit der kleinen Messingtafel im Garten so wenig Erfolg wie mit den meisten Schildern in Schaufenstern oder Wörtern auf »Magda-Ziehn«-Titeln. Er wollte schon aufgeben, wollte die junge Frau, deren Gesicht ihm entfernt bekannt vorkam, doch bitten, ihm den Text vorzulesen, als die Buchstaben sich auf einmal veränderten und zu den Großen Buchstaben Gileads wurden. Nun konnte er mühelos lesen, was dort stand. Sobald er fertig war, nahmen die Buchstaben wieder ihre vorige Gestalt an.
»Ein hübsches Kunststück«, sagte er. »Hat das Geschriebene auf meine Gedanken reagiert?«
Sie lächelte – ihre Lippen waren mit einer Masse überzogen, die ihn an rosa Zuckerguss erinnerte – und nickte. »Ja. Wären Sie Jude, hätten Sie ihn auf Hebräisch gesehen. Wären Sie Russe, hätte er kyrillisch dagestanden.«
»Sprecht Ihr wahrhaftig?«
»Wahrhaftig.«
In der Eingangshalle herrschte wieder der normale Rhythmus … nur begriff Roland, dass der Rhythmus dieses Gebäudes nie dem anderer Bürogebäude
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