Der Dunkle Turm 7 - Der Turm
kann’s«, sagte Moses Carver. »Meine Odetta, die Sie Susannah nennen.«
Roland nickte bedächtig. Und obwohl er bereits angefangen hatte, gewisse Zweifel zu haben, erschien vor seinem inneren Auge ein glänzendes Bild, das sie mit Oy zwischen sich dicht an einem Feuer sitzend zeigte – an einem großen, weil die Nacht kalt war. In den Felsen über ihnen heulte der Wind eine bittere Wintermelodie, aber das bekümmerte sie nicht, weil sie den Bauch voll hatten, ihre Körper warm waren, in Felle von Tieren gehüllt, die sie selbst erlegt hatten, und sie eine unterhaltsame Geschichte vor sich hatten.
Stephen Kings Geschichte von Insomnia, von Schlaflosigkeit.
»Sie wird Sie Ihnen auf der weiteren Wanderung vorlesen«, sagte der Alte. »Auf Ihrer Wanderung, sagt Gott!«
Ja, dachte Roland. Eine letzte Geschichte anhören, eine letzte Wanderung unternehmen. Die eine, die zum Can’-Ka No Rey und dem Dunklen Turm führte. Zumindest wäre das eine verlockende Vorstellung.
»In dem Roman benutzt der Scharlachrote König diesen Ed Deepneau«, sagte Nancy, »um ein Einzelkind, einen Jungen namens Patrick Danville, zu ermorden. Unmittelbar vor dem Anschlag, während Patrick und seine Mutter darauf warten, dass eine Frau eine Rede hält, zeichnet der Junge ein Bild, das Sie, Roland, und den Scharlachroten König zeigt, der anscheinend im obersten Geschoss des Dunklen Turms gefangen gehalten wird.«
Roland fuhr zusammen. »Im obersten Geschoss? Im obersten Geschoss gefangen?«
»Keine Aufregung«, sagte Marian. »Ganz ruhig, Roland. Die Calvins analysieren Kings Werk seit Jahren, jedes Wort und jeden Hinweis, und die Ergebnisse ihrer Arbeit werden an die Guten-Geist- Folken in New Mexico weitergeleitet. Obwohl die beiden Gruppen noch nie zusammengetroffen sind, könnte man mit vollem Recht behaupten, dass sie zusammenarbeiten.«
»Nicht, dass sie sich immer einig wären«, warf Nancy ein.
»Allerdings nicht!« Marian sprach mit der verärgerten Stimme einer Frau, die in ihrem Leben mehr als genügend kleine Streitereien hatte schlichten müssen. »Aber etwas, worüber sie sich einig sind, ist die Tatsache, dass Kings Hinweise auf den Dunklen Turm fast immer verdeckt sind und manchmal auch überhaupt nichts bedeuten.«
Roland nickte. »Er spricht davon, weil sein Unverstand stets daran denkt, aber manchmal verfällt er in Geschwafel.«
»Ja«, sagte Nancy.
»Aber ihr haltet offenbar nicht das gesamte Buch für eine falsche Fährte, sonst würdet ihr es mir nicht mitgeben wollen.«
»Das tun wir in der Tat nicht«, sagte Nancy. »Was aber nicht unbedingt heißt, dass der Scharlachrote König im Obergeschoss des Turms gefangen gehalten wird. Andererseits ist das wiederum auch nicht auszuschließen.«
Roland dachte an seine eigene Überzeugung, dass der Rote König nämlich außerhalb des Turms – auf einer Art Balkon – gefangen war. War das eine echte Intuition oder nur etwas, was er glauben wollte?
»Jedenfalls solltest du unserer Meinung nach auf diesen Patrick Danville achten«, sagte Marian. »Nach allgemeiner Ansicht existiert er nämlich tatsächlich, obwohl wir hier noch keine Spur von ihm haben entdecken können. Vielleicht findet ihr ihn ja in Donnerschlag.«
»Oder jenseits davon«, warf Moses ein.
Marian nickte. »Wie Stephen King in Schlaflos erzählt – das wirst du dann selbst hören –, stirbt Patrick Danville noch als junger Mann. Aber das braucht nicht wahr zu sein. Verstehst du, was ich damit meine?«
»Nicht hundertprozentig.«
»Wenn Sie Patrick Danville finden – oder er Sie findet –, ist er vielleicht noch immer das in diesem Roman geschilderte Kind«, sagte Nancy. »Aber er könnte auch so alt wie Onkel Mose sein.«
»Pech für ihn, wenn er’s ist!«, sagte der Alte und lachte glucksend.
Roland wog das Buch in den Händen, starrte den rot-weißen Umschlag an und fuhr die leicht erhabenen Buchstaben nach, die ein Wort bildeten, das er nicht lesen konnte. »Und ist es wirklich nicht nur eine Geschichte?«
»Seit er im Frühjahr 1970 die Zeile Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm getippt hat«, sagte Marian Carver, »ist sehr wenig von dem, was Stephen King geschrieben hat, ›nur eine Geschichte‹ gewesen. Er mag das vielleicht nicht glauben; wir jedoch tun das schon.«
Aber die jahrelange Beschäftigung mit dem Scharlachroten König kann bewirkt haben, dass ihr überall Gespenster seht, wenn’s beliebt, dachte Roland. Laut sagte er dann:
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