Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
jetzt flach auf dem Boden. Roland konnte das Fleisch riechen, das sie sich hatte abwiegen lassen, worauf sofort sein Magen knurrte. Er war müde, hungrig, mit Kummer überladen, und es gab zu viele Dinge, an die er denken musste, bei weitem zu viele. Sein Verstand kam nicht mehr mit. Jake hätte vielleicht gesagt, er brauche eine »Auszeit«, aber Roland konnte in ihrer unmittelbaren Zukunft keine Auszeiten sehen.
Der Ladenbesitzer hielt ihm einen Schlüsselbund hin. Die Finger zitterten, und die Schlüssel klirrten leise. Die durch die Schaufenster einfallende Spätnachmittagssonne fiel auf sie und warf komplizierte Reflexionen in die Augen des Revolvermanns. Erst hatte der Mann mit der Hand unter seine weiße Schürze gegriffen (und das gar nicht langsam), ohne um Erlaubnis zu fragen; jetzt hielt er mehrere reflektierende Metallobjekte hoch, wie um seinen Gegner zu blenden. Als ob er es darauf anlegte, erschossen zu werden. Aber so war’s auch am Tag des Hinterhalts gewesen, oder nicht? Der Krämer (damals noch leichtfüßiger und ohne krummen Rücken) war Eddie und ihm wie eine Katze nachgelaufen, die es nicht lassen konnte, einem zwischen die Beine zu geraten, und hatte den Kugelhagel um sie herum anscheinend nicht wahrgenommen (genau wie er den Streifschuss an seiner Schläfe zunächst anscheinend nicht bemerkt hatte). Roland wusste noch gut, wie er zwischendrin von seinem Sohn erzählt hatte – fast wie ein Mann, der beim Friseur ein Schwätzchen hielt, während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam. Also ein Ka-Mai, und solche Leute waren nicht selten gegen Gefahren gefeit. Zumindest bis das Ka ihrer Possen überdrüssig wurde und sie aus dieser Welt hinausbeförderte.
»Nehmen Sie den Pick-up, nehmen Sie ihn, fahren Sie, wohin Sie wollen!«, rief der Ladenbesitzer. »Er gehört Ihnen! Ich schenke ihn Ihnen! Wirklich!«
»Wenn Ihr nicht aufhört, mich mit den verdammten Schlüsseln zu blenden, Sai, nehme ich Euch das Leben«, sagte Roland. Hinter der Theke hing eine weitere Uhr. Ihm war bereits aufgefallen, dass diese Welt voller Uhren war, so als glaubten die Leute, die hier lebten, sie könnten damit die Zeit käfigen. Zehn vor vier, was bedeutete, dass sie schon neun Minuten auf der Amerika-Seite waren. Die Zeit raste, raste nur so dahin. Irgendwo in der Nähe befand Stephen King sich höchstwahrscheinlich auf seinem Nachmittagsspaziergang, und zwar in verzweifelter Gefahr, obwohl er nichts davon ahnte. Oder war es schon passiert? Sie – wenigstens Roland – hatten immer angenommen, dass der Tod des Schriftstellers sie wie ein Balkenbeben schwer treffen würde, aber vielleicht stimmte das ja gar nicht. Vielleicht würden die Auswirkungen seines Todes sich erst nach und nach bemerkbar machen.
»Wie weit ist es von hier zur Turtleback Lane?«, knurrte Roland den Ladenbesitzer an.
Der ältliche Sai starrte ihn nur mit riesigen, vor Entsetzen feucht schimmernden Augen an. Roland hatte noch nie ein derart starkes Bedürfnis gehabt, einen Menschen abzuknallen … oder ihn wenigstens mit dem Revolvergriff niederzuschlagen. Der Mann sah so dämlich aus wie eine Ziege, die mit einem Huf in einer Felsspalte festsaß.
Dann sprach die vor der Kühltheke auf dem Boden liegende Frau. Sie behielt die Hände auf dem Rücken, als sie sich zur Seite wälzte, um zu Roland und Jake aufsehen zu können. »Die liegt in Lovell, Mister. Das ist ungefähr fünf Meilen von hier.«
Ein Blick in ihre Augen – groß und braun, aber keineswegs in Panik – genügte, um Roland zu zeigen, dass sie nicht den Krämer, sondern diese Frau brauchten. Es sei denn …
Er wandte sich an Jake. »Kannst du das Gefährt des Krämers fünf Meilen weit fahren?«
Roland sah, dass der Junge das schon bejahen wollte, aber dann erkannte, dass er nicht das Misslingen ihres Unternehmens riskieren durfte, indem er etwas zu tun versuchte, was er – als Stadtjunge, der er war – noch nie im Leben getan hatte.
»Nein«, sagte Jake. »Ich glaube nicht. Und du?«
Roland hatte beobachtet, wie Eddie den Wagen John Cullums gelenkt hatte. Das Ganze schien nicht allzu schwer zu sein … aber er musste Rücksicht auf seine Hüfte nehmen. Rosa hatte ihm erklärt, dass die Gelenkstarre sich rasch ausbreite – wie ein von stürmischen Winden angefachter Waldbrand, hatte sie gesagt –, und er wusste jetzt, was sie damit gemeint hatte. Auf der Wanderung zur Calla Bryn Sturgis hatte seine Hüfte nur manchmal wehgetan. Jetzt kam es ihm so vor, als
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