Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Lied singt. So ist’s an diesem sonnigen Nachmittag im Westen von Maine: die unwiderstehliche Kraft rast auf das unbewegliche Objekt zu, und zum ersten Mal seit dem Rückzug der Prim wendet alle Existenz, wenden alle Welten sich dem Dunklen Turm zu, der am fernen Ende des Cari-Ka No Rey – das heißt der Roten Felder von Niemand – steht. Sogar der Scharlachrote König hört mit seinem zornigen Geschrei auf. Liegt die Entscheidung doch am Dunklen Turm selbst.
»Die Auflösung erfordert ein Opfer«, sagt King, und obwohl ihn außer den Vögeln niemand hört und er keine Ahnung hat, was dieser Satz von ihm bedeuten soll, bleibt er unbesorgt. Ständig murmelt er ja irgendwas vor sich hin; man könnte glauben, in seinem Kopf gebe es eine Höhle der Stimmen, eine voller hervorragender – aber nicht notwendigerweise intelligenter – Imitatoren.
Er marschiert weiter, schwingt seine Hände neben seinen in Jeans steckenden Oberschenkeln, ist sich nicht bewusst, dass sein Herz die letzten Schläge
(nicht)
tut, dass sein Verstand die letzten Gedanken
(nicht)
hat und dass seine Stimmen ihre letzten delphischen Prophezeiungen
(nicht)
machen.
»Ves’-Ka Gan«, sagt er und ist von diesem Klang amüsiert, fühlt sich aber auch zu ihm hingezogen. Er hat sich vorgenommen, seine Dunkler-Turm-Phantasien nicht mit unaussprechlichen Wörtern in irgendeiner erfundenen (um nicht zu sagen beschissenen) Sprache aufzumotzen – wenn er das tut, streicht sie ihm Chuck Verrill, sein New Yorker Lektor, ohnehin größtenteils heraus –, aber sein Verstand scheint sich trotzdem ständig mit solchen Wörtern und Begriffen zu füllen: Ka, Ka-Tet, Sai, Soh, Can-Toi (das stammt wenigstens aus Desperation, einem anderen seiner Bücher. Können da Tolkiens Cirith Ungol und H. P. Lovecrafts Nyarlahotep, der Große Blinde Fiedler, noch weit sein?
King lacht kurz auf und fängt dann an, einen Song zu singen, den eine seiner Stimmen ihm geschenkt hat. Er glaubt, dass er ihn bestimmt in seinem nächsten Revolvermann-Buch, in dem er der Schildkröte endlich ihre Stimme wiedergibt, benutzen wird. »Commala-come-come«, singt er im Weitergehen, »there’s a young man with a gun. Young man lost his honey when she took it on the run.«
Ist dieser junge Mann etwa Eddie Dean? Oder Jake Chambers?
»Eddie«, sagt er laut. »Eddie ist der Revolvermann mit dem Schätzchen.« Er ist so tief in Gedanken versunken, dass er das Dach des blauen Dodge Caravan nicht sieht, als es über dem nahen Horizont vor ihm auftaucht, und deshalb auch nicht erkennt, dass dieser Wagen gar nicht auf der Straße, sondern auf dem Seitenstreifen fährt, auf dem er gerade geht. Genauso wenig nimmt er das Röhren des hinter ihm herankommenden Pick-ups wahr.
18
Bryan hört das Scharren des Kühlboxdeckels trotz des irren Rip-Rap-Beats der Musik, und als er einen Blick in den Rückspiegel wirft, ist er bestürzt und empört zugleich, weil er sieht, dass Bullet, schon immer der vorlautere der beiden Rotties, von der Ladefläche an der Hecktür in den Fahrgastbereich gesprungen ist. Bullets Hinterläufe liegen auf dem schmutzigen Sitz, sein Stummelschwanz wedelt vergnügt, und seine Schnauze ist in Bryans Kühlbox vergraben.
Unter diesen Umständen würde jeder vernünftige Fahrer an den Straßenrand fahren, dort anhalten und sein ungezogenes Tier zur Ordnung rufen. Aber Bryan Smith hat am Steuer noch nie gute Noten für Vernunft bekommen – und kann das durch zahlreiche Verkehrsvergehen beweisen. Statt also am Straßenrand zu halten, dreht er sich nach rechts um, lenkt mit der linken Hand und drückt mit der Rechten wirkungslos gegen den flachen Schädel des Rottweilers.
»Lass das!«, brüllt er Bullet an, während sein Minivan sich erst dem rechten Seitenstreifen nähert, um schließlich darauf weiterzurumpeln. »Hörst du nicht, Bullet? Spinnst du jetzt? Lass das!« Es gelingt ihm sogar, den Hundekopf einen Augenblick lang hochzudrücken, aber er findet mit den Fingern in dem kurzen Fell keinen Halt, und Bullet ist zwar kein Genie, aber doch clever genug, um zu wissen, dass er noch mindestens eine Chance hat, sich das Zeug im weißen Papier – dieses Zeug mit dem verlockenden Blutgeruch – zu schnappen. Er taucht unter Bryans Hand hindurch und bekommt das Paket Hamburgerfleisch in die Fänge.
»Aus!«, schreit Bryan. »Lass das … SOFORT fallen!«
Um den nötigen festen Halt zu haben, während er sich in seinem Schalensitz umdreht, stemmt er sich mit
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