Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Holster getragen hatte. Dieser einzelne Schuss würde bedeuten, dass er seinem Kummer auf sehr direkte Weise ein Ende gemacht hatte.
Als sie die Stille jenseits der Wand nicht länger ertragen konnte, stand sie auf, zog sich wieder an und ging ins Freie, um sich die Sterne anzusehen. Dort sah sie Roland mit dem Nicht-Hund an seiner Seite auf dem Randstein sitzen. Sie hätte ihn am liebsten gefragt, wie er von ihr unbemerkt aus seinem Zimmer hinausgekommen war (die Wände waren so dünn, und sie hatte so angestrengt hingehört), verzichtete dann aber doch darauf. Stattdessen fragte sie ihn, was er hier draußen mache, nur um anschließend zu merken, dass sie auf seine Antwort und die rückhaltlose Offenheit seines ihr zugewandten Gesichts nicht vorbereitet gewesen war. Sie erwartete bei ihm immer wieder etwas zivilisierte Patina – ein Quäntchen Feinheit, Höflichkeit –, aber die gab es bei ihm nicht. Seine Ehrlichkeit war erschreckend.
»Ich habe Angst vor dem Einschlafen«, sagte er. »Ich habe Angst, dass meine toten Freunde mich besuchen werden – und dass es mein Tod sein wird, sie zu sehen.«
In dem Mischlicht, das teils aus der offenen Tür ihres Zimmers fiel, teils von dem grässlichen, herzlosen Halloween-Glanz der Natriumdampflampen des Parkplatzes stammte, blickte sie ihn unverwandt an. Ihr Herz hämmerte derart stark, dass ihre ganze Brust zitterte, aber als sie sprach, klang ihre Stimme ganz ruhig: »Würde es helfen, wenn ich mich zu dir lege?«
Roland dachte darüber nach, dann nickte er. »Ich glaube schon.«
Sie ergriff seine Hand, und gemeinsam gingen sie in das Zimmer, das sie für ihn gemietet hatte. Er streifte seine Kleidung ab, ohne das kleinste bisschen verlegen zu wirken, und sie betrachtete ängstlich staunend die Narben, die seinen Oberkörper bedeckten: die rot gekräuselte Spur eines Messerstichs am einen Bizeps, das milchige Narbengewebe einer Brandwunde am anderen, die sich überkreuzenden weißen Peitschenstriemen auf und zwischen den Schulterblättern, drei tiefe Einbuchtungen, die nur alte Schusswunden sein konnten. Und dazu kamen natürlich die zwei fehlenden Finger seiner rechten Hand. Sie war neugierig, aber sie wusste, dass sie nie den Mut haben würde, ihn danach zu fragen.
Sie legte ihre Oberbekleidung ab, zögerte kurz, streifte dann aber auch den Büstenhalter ab. Sie hatte einen Hängebusen und an einer Brust ebenfalls eine vertiefte Narbe, die jedoch nicht von einer Kugel, sondern von einer Lumpektomie stammte. Na und? Selbst in ihrer Blütezeit hätte sie nie ein Wäschemodell für Victorias Secret abgeben können. Und selbst in ihrer Blüte hatte sie auch nie geglaubt, nur aus Titten und Arsch mit dem dazugehörigen Lebenserhaltungssystem zu bestehen. Sie hatte auch nie zugelassen, dass irgendjemand – einschließlich ihres Mannes – diesem Irrtum erlag.
Ihren Slip ließ sie jedoch an. Wäre ihr Schamhaar frisch gestutzt gewesen, hätte sie ihn vielleicht abgestreift. Wenn sie morgens beim Aufstehen gewusst hätte, dass sie in einem billigen Motelzimmer mit einem fremden Mann ins Bett gehen würde, während irgendein seltsames Tier auf der Badematte vor der Wanne pennte … Natürlich hätte sie dann auch ihre Zahnbürste und eine Tube Zahnpasta eingepackt.
Als er sie auf dem Bett liegend umarmte, holte sie zuerst erschrocken tief Luft und machte sich steif, dann entspannte sie sich. Aber sehr langsam. Er drängte sich mit den Hüften an ihr Gesäß, und sie spürte das beträchtliche Gewicht seines Gemächts, aber er hatte anscheinend nur Trost im Sinn; sein Glied war schlaff.
Er umfasste ihre linke Brust und ließ den Daumen in die vertiefte Narbe gleiten, die von der Lumpektomie herrührte. »Was ist das?«, fragte er.
»Na ja«, sagte sie (allerdings nicht mehr mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme), »mein Arzt meint, in weiteren fünf Jahren wäre daraus Krebs geworden. Deshalb hat man mir es rausgeschnitten, bevor es … ich weiß nicht, wie’s richtig heißt … Metastasen kommen erst später, wenn überhaupt.«
»Bevor es blühen konnte?«, fragte er.
»Ja. Richtig. Gut.« Ihre Brustwarze war jetzt steinhart, und das musste er natürlich spüren. Ach, das war alles so verrückt!
»Warum schlägt dein Herz so aufgeregt?«, fragte er. »Hast du Angst vor mir?«
»Ich … ja.«
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Das Töten hat ein Ende.« Eine lange Pause in der Dunkelheit. Sie konnte das gedämpfte Brausen des Verkehrs auf der
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