Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
irgendwie schon seit seiner Kindheit bewusst war. Er nahm sich einen Popkin, kippte einen gehäuften Löffel Zucker in seinen Tee und tat obendrein Honig dazu. Er würde sich hier so kurz wie möglich aufhalten und möglichst bald zu Irene zurückkehren, aber bis dahin …
»Wohl bekomm’s, Sir«, sagte Moses Carver und blies über seine Kaffeetasse hinweg. »Freu dich, Gurgel, ein Platzregen kommt! Heißa!«
»Dad und ich haben ein Haus auf Montauk Point«, sagte Marian, während sie Sahne in ihren Kaffee tat, »und wir waren am vergangenen Wochenende draußen. Am Samstagnachmittag gegen Viertel nach fünf hat mich einer der hiesigen Wachleute angerufen. Eigentlich entlohnt sie zwar die Hammarskjöld-Plaza-Verwaltungsgesellschaft, aber die Tet Corporation legt noch einen Bonus drauf, damit wir … bestimmte interessante Dinge erfahren, sagen wir mal … sobald sie sich ereignen. Als nun der 19. Juni näher rückte, haben wir die Plakette in der Eingangshalle gespannt beobachtet, Roland. Wärst du überrascht zu hören, dass der Text bis gegen Viertel nach fünf an diesem Tag GESPENDET VON DER TET CORPORATION ZU EHREN DER BALKEN-FAMILIE UND ZUR ERINNERUNG AN GILEAD gelautet hat?«
Roland überlegte, trank einen kleinen Schluck von seinem Tee (der heiß und stark und gut war) und schüttelte dann den Kopf. »Nein.«
Marian beugte sich mit glitzernden Augen nach vorn. »Und weshalb?«
»Weil bis zu diesem Zeitpunkt am Samstagnachmittag alles in der Schwebe war. Obwohl den Brechern das Handwerk gelegt worden war, blieb alles in der Schwebe, bis Stephen King gerettet war.« Er sah die drei nacheinander an. »Ihr wisst doch von den Brechern?«
Marian nickte. »Nicht im Detail, aber wir wissen, dass der Balken, an dessen Zerstörung sie gearbeitet haben, jetzt vor ihnen sicher ist und auch nicht so schwer beschädigt, dass er sich nicht regenerieren könnte.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Und wir wissen von deinem Verlust. Von beiden Verlusten. Unser herzliches Beileid, Roland.«
»Diese Jungs sind in Jesu Armen geborgen«, sagte Marians Vater. »Und selbst falls sie ’s nicht sind, sind sie auf der Lichtung zusammen.«
Roland, der das ebenfalls glauben wollte, nickte dankend. Dann wandte er sich wieder Marian zu. »Die Sache mit dem Schriftsteller war sehr knapp. Er ist verletzt, schwer verletzt. Jake ist gestorben, um ihn zu retten. Er hat sich zwischen King und das Van-Mobil geworfen, das ihm den Tod gebracht hätte.«
»King wird wieder gesunden«, sagte Nancy. »Und er wird wieder schreiben. Das wissen wir aus sehr zuverlässiger Quelle.«
»Von wem?«
Marian beugte sich vor. »Dazu kommen wir gleich«, sagte sie. »Der springende Punkt ist, dass wir das fest glauben, Roland, dass wir dessen sicher sind. Und dass King in den kommenden Jahren ungefährdet ist, bedeutet, dass deine Arbeit in Bezug auf die Balken getan ist: Ves’-Ka Gan.«
Roland nickte. Das Lied würde weitergehen.
»Vor uns liegt zwar noch viel Arbeit«, fuhr Marian fort, »für mindestens dreißig Jahre, schätzen wir, aber …«
»Aber das ist unsere Arbeit, nicht Ihre«, sagte Nancy.
»Habt ihr das aus derselben ›zuverlässigen Quelle‹?«, fragte Roland und nahm einen Schluck Tee. Obwohl der Tee sehr heiß war, hatte er die große Tasse schon halb geleert.
»Ja. Dein Streben, die Kräfte des Scharlachroten Königs zu besiegen, war erfolgreich. Der Scharlachrote König selbst …«
»Das war niemals das Streben dieses Mannes, das weißt du genau!«, sagte der neben der attraktiven Schwarzen sitzende Hundertjährige und stieß erneut mit seinem Krückstock auf den Teppichboden. »Sein Streben …«
»Genug jetzt, Dad.« Ihre Stimme klang so energisch, dass der Alte blinzeln musste.
»Nay, lass ihn sprechen«, sagte Roland. Alle starrten ihn an, als hätte dieser trockene Peitschenknall sie überrascht (und ein wenig verängstigt). »Lass ihn reden, denn er spricht wahrhaftig. Wollen wir die Sache ausfechten, lasst sie uns ganz ausfechten. Für mich sind die Balken nie mehr als ein Mittel zum Zweck gewesen. Wären sie gebrochen, wäre der Turm gefallen. Wäre der Turm gefallen, würde ich ihn nie erreichen und ersteigen können.«
»Das heißt also, dass der Dunkle Turm Ihnen mehr bedeutet als der Fortbestand des Universums«, sagte Nancy Deepneau. Sie sprach in einem Ton, als wollte sie sich nur vergewissern, dass sie richtig verstanden hatte, und betrachtete Roland mit einer Mischung aus Erstaunen und Verachtung.
Weitere Kostenlose Bücher