Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
genügend kleine Streitereien hatte schlichten müssen. »Aber etwas, worüber sie sich einig sind, ist die Tatsache, dass Kings Hinweise auf den Dunklen Turm fast immer verdeckt sind und manchmal auch überhaupt nichts bedeuten.«
Roland nickte. »Er spricht davon, weil sein Unverstand stets daran denkt, aber manchmal verfällt er in Geschwafel.«
»Ja«, sagte Nancy.
»Aber ihr haltet offenbar nicht das gesamte Buch für eine falsche Fährte, sonst würdet ihr es mir nicht mitgeben wollen.«
»Das tun wir in der Tat nicht«, sagte Nancy. »Was aber nicht unbedingt heißt, dass der Scharlachrote König im Obergeschoss des Turms gefangen gehalten wird. Andererseits ist das wiederum auch nicht auszuschließen.«
Roland dachte an seine eigene Überzeugung, dass der Rote König nämlich außerhalb des Turms – auf einer Art Balkon – gefangen war. War das eine echte Intuition oder nur etwas, was er glauben wollte?
»Jedenfalls solltest du unserer Meinung nach auf diesen Patrick Danville achten«, sagte Marian. »Nach allgemeiner Ansicht existiert er nämlich tatsächlich, obwohl wir hier noch keine Spur von ihm haben entdecken können. Vielleicht findet ihr ihn ja in Donnerschlag.«
»Oder jenseits davon«, warf Moses ein.
Marian nickte. »Wie Stephen King in Schlaflos erzählt – das wirst du dann selbst hören –, stirbt Patrick Danville noch als junger Mann. Aber das braucht nicht wahr zu sein. Verstehst du, was ich damit meine?«
»Nicht hundertprozentig.«
»Wenn Sie Patrick Danville finden – oder er Sie findet –, ist er vielleicht noch immer das in diesem Roman geschilderte Kind«, sagte Nancy. »Aber er könnte auch so alt wie Onkel Mose sein.«
»Pech für ihn, wenn er’s ist!«, sagte der Alte und lachte glucksend.
Roland wog das Buch in den Händen, starrte den rot-weißen Umschlag an und fuhr die leicht erhabenen Buchstaben nach, die ein Wort bildeten, das er nicht lesen konnte. »Und ist es wirklich nicht nur eine Geschichte?«
»Seit er im Frühjahr 1970 die Zeile Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm getippt hat«, sagte Marian Carver, »ist sehr wenig von dem, was Stephen King geschrieben hat, ›nur eine Geschichte‹ gewesen. Er mag das vielleicht nicht glauben; wir jedoch tun das schon.«
Aber die jahrelange Beschäftigung mit dem Scharlachroten König kann bewirkt haben, dass ihr überall Gespenster seht, wenn’s beliebt, dachte Roland. Laut sagte er dann: »Wenn nicht Geschichten, was dann?«
Diesmal antwortete Moses Carver: »Wir halten sie für eine Art Flaschenpost.« In seiner Art, dieses Wort auszusprechen – Flaschn-pohst –, klang für Roland ein herzzerreißendes Echo von Susannah an, und er hatte plötzlich den Wunsch, sie zu sehen, um zu wissen, dass mit ihr auch alles in Ordnung war. Dieses Begehren war auf einmal so stark, dass es einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge hinterließ.
»… jenes große Meer geworfen hat.«
»Entschuldigung«, sagte der Revolvermann. »Ich war zerstreut.«
»Ich habe gesagt, dass wir glauben, dass Stephen King seine Flaschenpost immer in jenes große Meer geworfen hat. In das, das wir die Prim nennen. In der Hoffnung, dass die Botschaften Sie erreichen werden, dass seine Mitteilungen es Ihnen und meiner Odetta ermöglichen werden, euer Ziel zu erreichen.«
»Womit wir bei unseren letzten Geschenken wären«, sagte Marian. »Unseren wirklichen Geschenken. Als Erstes …« Sie gab ihm das Holzkästchen.
Es hatte einen aufklappbaren Deckel. Roland legte seine linke Hand mit gespreizten Fingern auf den Deckel, um ihn zu öffnen, dann hielt er inne und betrachtete zunächst einmal seine Gesprächspartner. Sie sahen ihn hoffnungsvoll und mit gespannter Erwartung an – eine Verhaltensweise, bei der ihm unbehaglich zumute war. Ihm kam ein verrückter (aber erstaunlich überzeugender) Gedanke: Diese Leute waren in Wirklichkeit alles Handlanger des Scharlachroten Königs, und sobald er das Kästchen öffnete, würde er als Letztes einen zündfertigen Schnaatz sehen, der tickend die letzten Sekunden bis zum Einsatz zählte. Und die letzten Geräusche, die er hören würde, bevor seine Welt explodierte, würden ihr schrilles Lachen und der Ruf Heil dem Roten König! sein. Natürlich war das nicht unmöglich, aber irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem man Vertrauen haben musste, weil die Alternative der Wahnsinn war.
Wenn das Ka es so will, lass es geschehen, dachte er und öffnete das
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