Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
gewordenen Steine, aus denen es erbaut worden war, ursprünglich die Farbe vergossenen Bluts gehabt hatten. Das weckte wieder Erinnerungen an ihr Palaver mit Mia auf dem Wehrgang von Schloss Discordia: Erinnerungen an ein stetig pulsierendes scharlachrotes Licht in der Ferne. Eigentlich von ziemlich genau dorther, wo sie jetzt standen.
Komm jetzt zu mir, wenn du überhaupt willst, Susannah von New York, hatte Mia sie aufgefordert. Der König kann selbst aus der Ferne seinen Bann ausüben.
Sie hatte von diesem pulsierenden roten Glühen gesprochen, aber …
»Es ist weg!«, sagte sie zu Roland. »Das rote Licht aus dem Schloss … der Schmiede des Königs, so hat sie’s genannt! Es ist erloschen! Wir haben es die ganze Zeit über kein einziges Mal gesehen!«
»Richtig«, sagte er, und diesmal war sein Lächeln etwas wärmer. »Ich glaube, dass wir es zum Erlöschen gebracht haben, als wir die Arbeit der Brecher beendet haben. Das Schmiedefeuer des Königs brennt nicht mehr, Susannah. Auf ewig, wenn die Götter uns wohl gesinnt sind. Wenigstens das haben wir erreicht, wenn wir auch teuer dafür bezahlt haben.«
Am Nachmittag dieses Tages erreichten sie Le Casse Roi Russe, das sich als doch nicht gänzlich verlassen erweisen sollte.
Kapitel III
D AS S CHLOSS DES S CHARLACHROTEN K ÖNIGS
1
Sie waren noch eine Meile von dem Schloss entfernt, und das Brausen des unsichtbaren Flusses war sehr laut geworden, als mit einem Mal Fahnenschmuck und Wahlplakate vor ihnen auftauchten. Der Fahnenschmuck bestand aus rot-weiß-blauen Fähnchen und Girlanden – die Art, die Susannah mit Paraden am Volkstrauertag und kleinstädtischen Hauptstraßen am Unabhängigkeitstag in Verbindung brachte. An den Fassaden dieser schmalen, geheimnistuerischen Häuser und ehemaligen Geschäfte, die längst geschlossen und vom Keller bis zum Dachboden ausgeräumt waren, wirkte solcher Schmuck wie Rouge auf den Wangen eines verwesenden Leichnams.
Die Gesichter auf den Plakaten waren ihr nur allzu vertraut. Richard Nixon und Henry Cabot Lodge machten mit Zeige- und Mittelfinger das Siegeszeichen und grinsten wie Autoverkäufer (NIXON/LODGE, WEIL DIE ARBEIT NOCH NICHT GETAN IST, hieß es dazu). John Kennedy und Lyndon Johnson hatten einander die Arme um die Schultern gelegt und die freien Hände grüßend erhoben. Unter ihren Füßen stand die kühne Behauptung WIR BRECHEN ZU NEUEN GRENZEN AUF.
»Irgendeine Idee, wer gewonnen hat?«, fragte Roland über die Schulter hinweg. Susannah fuhr gegenwärtig mit Ho Fats Luxustaxi und sah sich die Sehenswürdigkeiten an (und wünschte sich dabei, sie hätte einen Pullover; schon eine leichte Wolljacke hätte ihr weiß Gott genügt).
»O ja«, sagte sie. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass diese Plakate in ihrem, Susannahs, Interesse angebracht worden waren. »Kennedy hat gewonnen.«
»Er ist dein Dinh geworden?«
»Dinh der gesamten Vereinigten Staaten. Und Johnson hat den Job bekommen, nachdem Kennedy erschossen worden war.«
»Erschossen? Sagst du das?« Roland wirkte neugierig.
»Aye. Von einem Feigling namens Oswald aus dem Hinterhalt erschossen.«
»Und deine Vereinigten Staaten waren das mächtigste Land der Welt.«
»Na ja, Russland hat uns gerade schwer Konkurrenz gemacht, als du mich am Kragen gepackt und nach Mittwelt gerissen hast, aber im Prinzip hast du Recht.«
»Und die Bürger deines Landes wählen ihren Dinh selbst? Dieses Amt wird nicht vom Vater auf den Sohn vererbt?«
»Richtig«, sagte sie leicht misstrauisch. Sie erwartete fast, dass Roland gleich das demokratische System kritisieren würde. Oder darüber lachen.
Stattdessen überraschte Roland sie, indem er sagte: »Das klingt ziemlich knorke, um Blaine den Mono zu zitieren.«
»Tu mir einen Gefallen und zitiere ihn nicht, Roland. Weder jetzt noch jemals wieder. Okay?«
»Wie du willst«, sagte er, dann fuhr er ohne Pause, aber mit viel leiserer Stimme fort: »Halt meinen Revolver bereit, wenn’s beliebt.«
»Wird gemacht«, bestätigte Susannah sofort und ebenso leise. Das kam als Wi’ g’mach’ heraus, weil sie die Lippen möglichst nicht bewegen wollte. Sie konnte spüren, dass sie jetzt aus dem Inneren der Gebäude beobachtet wurden, die sich an diesem Ende von Des Königs Weg zusammendrängten wie Krämerläden und Wirtshäuser einer mittelalterlichen Kleinstadt (oder einer entsprechenden Filmkulisse). Sie wusste nicht, ob das Menschen, Roboter oder vielleicht nur weiterhin funktionierende
Weitere Kostenlose Bücher