Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
die sie gesehen hatte, seit das verlassene Dorf sich stumm zu beiden Seiten ihres Wegs erhoben hatte. Sie war nicht mit Steinen gepflastert, sondern hatte einen glatten Straßenbelag und verlief nach Südosten, immer den Pfad des Balkens entlang. Über ihr glitten die vom Mondschein versilberten Wolken wie Boote bei einer Seeprozession dahin.
»Siehst auch du am Horizont einen dunklen Schatten, meine Liebe?«, fragte er.
»Ja. Einen dunklen Schatten mit einem weißlichen Streifen davor. Was ist das? Weißt du das?«
»Ich vermute etwas, aber ich bin mir meiner Sache nicht sicher«, sagte Roland. »Ich schlage vor, dass wir hier rasten. Der Tag ist nicht mehr weit, und dann sehen wir beide mehr. Außerdem möchte ich mich jenem Schloss nicht nachts nähern.«
»Wenn der Scharlachrote König fort ist und der Pfad des Balkens dort drüben liegt …« Sie zeigte die gerade Straße entlang. »Wozu müssen wir dann überhaupt in sein verdammtes altes Schloss gehen?«
»Zum einen, um festzustellen, dass er wirklich fort ist«, sagte Roland. »Und vielleicht schaffen wir es auf diese Weise auch, den hinter uns in eine Falle zu locken. Was ich zwar bezweifle – er ist schlau –, aber die Möglichkeit besteht. Er ist auch jung, und die Jugend ist nun einmal gelegentlich leichtsinnig.«
»Du würdest ihn umbringen?«
Rolands Lächeln wirkte im Mondschein eisig. Unbarmherzig. »Ohne einen Moment zu zögern«, sagte er.
8
Am Morgen wachte Susannah zwischen den hinten in der Rikscha verstreuten Vorräten aus einem unruhigen Halbschlaf auf und sah Roland, wie er auf der Kreuzung stand und den Pfad des Balkens hinabblickte. Sie stieg ab und bewegte sich dabei sehr vorsichtig. Sie war über Nacht steif geworden und wollte nicht fallen. Die Knochen in ihrem Fleisch stellte sie sich als etwas Kaltes und Sprödes vor: Glasknochen, die leicht zersplittern konnten.
»Was siehst du?«, fragte Roland sie. »Was siehst du dort vorn, nachdem es nun hell ist?«
Das weißliche Band war Schnee, was sie angesichts der Tatsache, dass dort Bergland lag, nicht überraschte. Was sie jedoch überraschte – und ihr Herz mehr erfreute, als sie je für möglich gehalten hätte –, waren die Bäume oberhalb des Schneestreifens. Grüne Tannen. Lebende Bäume.
»Oh, Roland, sie sehen herrlich aus!«, sagte sie. »Selbst mit dem unteren Stamm im Schnee sehen sie wundervoll aus! Findest du nicht auch?«
»Ja«, sagte er nur. Er hob sie hoch und drehte sich mit ihr in die Richtung um, aus der sie gekommen waren. Jenseits der hässlich zusammengedrängten Vorstadt mit den verlassenen Häusern konnte sie einen Teil des Ödlands sehen, das sie durchquert hatten: ein bizarres Gewirr aus Felsnadeln, aus dem einzelne Kegelstümpfe und Tafelberge aufragten.
»Stell dir Folgendes vor«, sagte Roland. »Dort hinten in Blickrichtung liegt Fedic. Jenseits von Fedic kommt Donnerschlag. Jenseits von Donnerschlag kommen die Callas und der Wald, der das Grenzland zwischen Mittwelt und Endwelt markiert. Lud liegt weit dahinter, und River Crossing noch weiter; auch das Westliche Meer und die große Mohainewüste liegen dort. Und irgendwo dort hinten, in der Weite und auch in der Zeit verloren, liegen die letzten Reste von Innerwelt. Die Baronien. Gilead. Orte, an denen noch jetzt Menschen leben, die sich an Liebe und Licht erinnern.«
»Ja«, meinte sie, ohne zu verstehen, was er damit sagen wollte.
»Dorthin hat der Scharlachrote König sich gewandt, um seiner Wut freien Lauf zu lassen«, fuhr Roland fort. »Er wollte in die andere Richtung, musst du wissen, zum Dunklen Turm, und war sich selbst in seinem Wahnsinn darüber im Klaren, dass er das Land, durch das er ziehen musste – er und ein Gefolge aus Anhängern, die er mitzunehmen beschlossen hatte –, nicht verwüsten durfte.« Er zog sie an sich und küsste sie mit einer Zärtlichkeit auf die Stirn, die sie fast zu Tränen rührte. »Wir drei werden sein Schloss besuchen und dort Mordred fangen, sollten die Götter uns begünstigen und ihm übel wollen. Dann ziehen wir weiter – zurück ins lebende Land. Dort wird es Holz zum Feuermachen geben und Wild, um an Frischfleisch und Felle für Kleidungsstücke zu kommen. Kannst du noch etwas länger durchhalten, meine Liebe? Kannst du?«
»Aye«, sagte sie. »Ich danke dir, Roland.«
Sie umarmte ihn, und während sie das tat, sah sie zum roten Schloss hinüber. Bei zunehmendem Tageslicht war zu sehen, dass die im Lauf der Jahre dunkler
Weitere Kostenlose Bücher