Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
geschickter. Nähen war eine Fertigkeit, die sie von ihrer Mutter und ihren beiden Großmüttern gelernt hatte. Anfangs trieben sie Rolands sperrige Knochennadeln fast in den Wahnsinn, bis sie sich die Zeit nahm, Daumen und Zeigefinger der rechten Hand mit kleinen Hirschlederkappen zu bedecken, die sie dort festband. Danach ging die Arbeit leichter von der Hand, und am frühen Nachmittag des Schneidereitages nahm sie Kleidungsstücke von Rolands Stapel und besserte seine weiten Stiche an vielen Stellen mit ihren aus, die feiner und enger gesetzt waren. Sie rechnete damit, dass er dagegen protestieren würde – Männer hatten da so ihren Stolz –, aber er unterließ das, was wahrscheinlich auch nur klug war. Hätte er gejammert und sich beschwert, wäre ihm vermutlich Detta Walker über den Mund gefahren.
Als die dritte Nacht im Gerberlager anbrach, hatten beide je eine Weste, ein Paar Leggings und einen Mantel. Dazu je ein Paar Fausthandschuhe. Das waren plumpe, lächerlich aussehende Dinger, die aber die Hände immerhin warm halten würden. Und was Hände betraf, so war Susannah wieder einmal kaum mehr imstande, die Finger zu biegen. Mit einem zweifelnden Blick auf die verbliebenen Häute fragte sie Roland, ob sie einen weiteren Schneidereitag hier im Lager verbringen würden.
Er dachte kurz darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Wir laden den Rest einfach nur aufs Ho-Fat-Tack-Sieh, zusammen mit einem Teil des Fleischs und ein paar Brocken Eis aus dem Bach, damit es kühl und frisch bleibt.«
»Das Taxi wird wertlos sein, sobald wir zum Schnee kommen, oder?«
»Richtig«, sagte er, »aber bis dahin haben wir dann auch die restlichen Häute zu Kleidungsstücken verarbeitet und das Fleisch längst verzehrt.«
»Du hältst es hier nicht länger aus, stimmt’s? Du hörst seinen Ruf. Den des Turms.«
Roland starrte in das prasselnde Feuer und sagte nichts. Das war auch nicht nötig.
»Wie transportieren wir unsere Gunna, wenn wir in die Weißen Lande kommen?«
»Wir bauen uns eine Schleppbahre. Und dort gibt’s dann auch reichlich frisches Wild.«
Susannah nickte und wollte sich nun hinlegen. Roland fasste sie jedoch an den Schultern und drehte sie zu dem Feuer um. Er brachte sein Gesicht so nahe an ihres heran, dass sie kurz glaubte, er wolle ihr einen Gutenachtkuss geben. Stattdessen betrachtete er lange und prüfend das kleine Geschwür neben ihrer Unterlippe.
»Und?«, sagte sie schließlich. Sie hätte mehr sagen können, aber dann hätte er das Zittern in ihrer Stimme gehört.
»Ich glaube, es ist ein bisschen kleiner geworden. Wenn wir erst einmal das Ödland ganz hinter uns haben, heilt es vielleicht von allein.«
»Glaubst du wirklich?«
Der Revolvermann schüttelte sofort den Kopf. »Ich sage vielleicht. Leg dich jetzt hin, Susannah. Ruh dich aus.«
»Also gut, aber lass mich nicht wieder länger schlafen. Ich will auch meinen Teil tun.«
»Ja. Leg dich jetzt hin.«
Das tat sie und schlief bereits, kaum dass sie die Augen geschlossen hatte.
10
Sie ist im Central Park, und es ist so kalt, dass sie ihren Atem sehen kann. Der Himmel über ihr ist gänzlich weiß, ein Schneehimmel, aber sie friert nicht. Nein, nicht in ihrem neuen Hirschledermantel, den Leggings, der Weste und den komischen Fausthandschuhen aus Hirschleder. Sie hat auch etwas auf dem Kopf, das bis über die Ohren heruntergezogen ist und sie ebenso wann hält wie den übrigen Körper. Sie nimmt die Mütze neugierig ab und stellt fest, dass sie nicht aus Hirschleder besteht wie ihre anderen neuen Sachen, sondern eine rot-grüne Weihnachtsmannmütze ist. Vorn darauf steht FRÖHLICHE WEIHNACHT.
Sie betrachtet sie verwundert. Kann man auch in Träumen Déjà-vu-Erlebnisse haben? Offenbar schon. Sie sieht sich um, und da stehen auch schon Eddie und Jake und grinsen sie an. Ihre Köpfe sind unbedeckt, und sie merkt, dass die Weihnachtsmannmütze, die sie in Händen hält, die beiden Mützen kombiniert, die sie in einem anderen Traum getragen haben. Sie empfindet plötzlich große, überschwängliche Freude, so als hätte sie gerade irgendein angeblich unlösbares Problem gelöst, sagen wir einmal die Quadratur des Kreises oder die ultimative Primzahl (nimm das, Blaine, damit hast du hoffentlich genug, du verrückter Tschuff-Tschuff-Zug).
Eddie trägt ein Sweatshirt mit dem Aufdruck ICH TRINKE NOZZ-A-LA!
Auf Jakes steht: ICH FAHRE DEN TAKURO SPIRIT!
Beide haben Becher mit heißer Schokolade von der perfekten
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