Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sehen.«
Er wollte schon aufstehen, aber sie zupfte ihn ungeduldig am Ärmel. »Versuch nicht, mich damit abzuspeisen! Was siehst du?«
»Dächer«, sagte er einlenkend. »Ich glaube, dass dort unten Häuser stehen. Vielleicht handelt es sich sogar um eine ganze Stadt.«
»Menschen? Sprichst du von Menschen?«
»Na ja, aus einem der Kamine scheint jedenfalls Rauch aufzusteigen. Allerdings lässt sich das nicht sicher sagen, weil der Himmel so weiß ist.«
Sie wusste nicht recht, ob sie Menschen sehen wollte oder nicht. Bestimmt würden diese nur alles verkomplizieren. »Roland, wir sollten vorsichtig sein.«
»Ja«, sagte er und ging wieder nach vorn zum Zuggeschirr. Bevor er es aufhob, rückte er noch seinen Patronengürtel zurecht und schob das Holster etwas tiefer, damit es bequemer neben seiner Linken hing.
Eine Stunde später erreichten sie die Kreuzung zwischen einem Landsträßchen und einer großen Straße. Sie wurde durch eine über drei Meter hohe Schneewehe markiert, durch die irgendjemand mit einem Schneepflug gefahren war. Im festgewalzten Schnee konnte Susannah die Fahrspuren einer Planierraupe erkennen. Aus dieser kompakten Schneeschicht ragte ein Eisenrohr. Die beiden oben angebrachten Straßenschilder unterschieden sich durch nichts von denen, die sie aus allen möglichen Städten kannte – zum Beispiel auch von Straßenkreuzungen in New York. Auf dem Schild für die kurze Straße stand:
ODD’s LANE
Aber erst das andere entzückte ihr Herz.
TOWER ROAD
stand darauf.
3
Die um die Kreuzung herum zusammengedrängt stehenden Landhäuser waren bis auf eines unbewohnt, und viele lagen als halb vergrabene Trümmerhaufen da, unter dem Gewicht des sich ansammelnden Schnees zusammengebrochen. Eines – es stand bei etwa drei Vierteln des linken Arms der Odd’s Lane – unterschied sich jedoch deutlich von den anderen. Das Dach war größtenteils von der potenziell erdrückenden Schneelast befreit worden, und von der Straße bis zur Haustür war ein Weg freigeschaufelt worden. Aus dem Kamin dieses malerischen, von Bäumen umgebenen Landhauses kam der federweiße Rauch. Hinter einem der Fenster brannte auch freundliches buttergelbes Licht, aber es war der Rauch, der Susannah faszinierte. Aus ihrer Sicht gab er dem Ganzen den letzten Schliff. Sie fragte sich nur noch, wer die Haustür aufmachen würde, wenn sie anklopften. Würde es Hänsel oder seine Schwester Gretel sein? (Waren die beiden eigentlich Zwillinge? Hatte sich jemals irgendwer mit dieser Frage beschäftigt?) Vielleicht würde es auch Rotkäppchen oder Goldlöckchen sein, Letztere mit einem Kinnbart aus Haferbrei, der verriet, dass sie genascht hatte.
»Vielleicht sollten wir’s einfach links liegen lassen«, sagte sie und merkte dann, dass ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern war, obwohl sie noch bei der Schneewehe standen. »Die Finger davon lassen und unseren Dank sagen.« Sie wies auf das Straßenschild TOWER ROAD. »Unser Weg ist klar vorgezeichnet, Roland – vielleicht sollten wir ihn dann auch nehmen.«
»Und wenn wir’s unverzüglich täten, glaubst du, dass auch Mordred es tun würde?«, fragte Roland. »Glaubst du, dass er einfach vorbeigehen und die Hausbewohner in Frieden lassen wird?«
Das war eine Frage, auf die sie gar nicht gekommen war, und die Antwort lautete natürlich Nein. Wenn Mordred zu der Überzeugung gelangte, die Hausbewohner töten zu können, würde er es tun. Um Nahrung zu haben, falls die Hausbewohner essbar waren, wenngleich die Nahrungsbeschaffung nur ein zweitrangiges Motiv sein würde. In den Wäldern hinter ihnen hatte es reichlich Wild gegeben, und selbst wenn Mordred nicht mithilfe der Jagd satt geworden war (und in seiner Spinnenform hätte er nach Susannahs Überzeugung durchaus erfolgreich jagen können müssen), hatten sie in sehr vielen Lagern die Überreste ihrer eigenen Mahlzeiten zurückgelassen. Nein, er würde wohlgenährt aus dem verschneiten Bergland herunterkommen … aber nicht zufrieden. Überhaupt nicht zufrieden. Und deshalb wehe dem, der ihm zufällig über den Weg lief.
Andererseits, dachte sie … nur gab es kein andererseits, und plötzlich war es ohnehin zu spät. Die Haustür des Landhauses ging auf, und ein alter Mann erschien auf der Schwelle. Er trug Stiefel, Jeans und einen schweren Parka mit Pelzbesatz an der Kapuze. Susannah fand, dass dieser Parka wie einer aus dem Army-Shop in Greenwich Village aussah.
Der alte Mann hatte rosige
Weitere Kostenlose Bücher