Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
ganz rund. »Das ist ein Name aus der Vergangenheit, was? Einer aus den Geschichtsbüchern! Heiliger Strohsack, Sie müssen älter als der liebe Gott sein!«
»Das würden manche sagen«, stimmte Roland lächelnd zu.
»Und der kleine Bursche?«, fragte er und beugte sich nach vorn. Aus seiner Tasche holte Collins zwei weitere Gummibonbons, einer rot, einer grün. Weihnachtsfarben, bei denen Susannah ein flüchtiges Déjà-vu-Gefühl empfand. Es streifte sie wie ein Flügelschlag und war gleich darauf wieder verschwunden. »Wie heißt du, kleiner Bursche? Was rufen sie, wenn du heimkommen sollst?«
»Er redet nicht …«
… mehr, obwohl er’s früher getan hat, hatte Susannah ergänzen wollen, aber bevor sie das konnte, sagte der Bumbler: »Oy!« Und das sagte er so aufgeweckt und nachdrücklich wie jemals in seiner Zeit mit Jake.
»Braver Junge!«, sagte Collins und ließ Oy die Gummibonbons aus der Luft schnappen. Dann streckte er seine knotige Hand aus, und Oy legte seine Pfote hinein. So schüttelten sie sich bei dieser glücklichen Begegnung an der Kreuzung von Odd’s Lane und Tower Road die Hand.
»Der Teufel soll mich holen«, sagte Roland vor sich hin.
»Das wird er uns alle, schätze ich, ob mit oder ohne Balken«, meinte Joe Collins, indem er Oys Pfote losließ. »Aber nich heut. Ich schlage vor, dass wir jetzt reingehn, wo wir’s warm haben und bei ’ner Tasse Kaffee – denn ich habe welchen, das tu ich – oder ’nem Krug Ale palavern können. Ich hab sogar etwas Eierlikör, wenn euch der lieber ist. Mir bekommt er am besten mit ’nem klitzekleinen Schuss Rum drin, aber wer weiß? Ich schmecke eigentlich schon seit über fünf Jahren nix mehr. Die Luft aus der Discordia hat mir die Geschmacksknospen und auch den Geruchssinn ruiniert. Also, was sagt ihr?« Er betrachtete sie erwartungsvoll.
»Das klingt meiner Meinung nach verdammt gut«, sagte Susannah. Sie hatte selten etwas aufrichtiger gemeint.
Er schlug ihr kameradschaftlich auf die Schulter. »Eine gute Frau ist ’ne wahrhaft unbezahlbare Perle! Weiß nich, ob das von Shakespeare, aus der Bibel oder von beiden stammt, aber …«
Plötzlich wechselte der Alte das Thema.
»Arrr, Lippy, der Teufel soll das, was mal deine Augen waren, holen, was hast du hier zu suchen? Wolltest diese Leute kennen lernen, was?«
Er sprach jetzt mit dem lächerlich übertriebenen Gurren, das ausschließlich Leute zu gebrauchen schienen, die mit einem oder zwei Haustieren allein hausten. Das Pferd hatte sich tollpatschig zwischen sie gedrängt, und Collins schlang ihm einen Arm um den Hals und tätschelte es mit rauer Zuneigung, obwohl Susannah die Stute für den hässlichsten Vierbeiner hielt, den sie in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Beim Anblick der Stute verflog ein Teil ihrer bisherigen guten Laune. Lippy war blind – nicht nur auf einem Auge, sondern auf beiden – und dürr wie eine Vogelscheuche. Bei jedem Schritt bewegte ihr Skelett sich so deutlich unter dem räudigen Fell, dass Susannah damit rechnete, dass jeden Moment ein paar Knochen durchstoßen würden. Einen Augenblick lang erinnerte sie sich an den nachtschwarzen Korridor unter Schloss Discordia mit einem absoluten Erinnerungsvermögen, das geradezu albtraumhaft war: das schlangenartige Gleiten des Wesens, das sie verfolgt hatte, und die Knochen. All diese Knochen.
Collins schien etwas davon auf ihrem Gesicht zu sehen, denn als er wieder sprach, klang seine Stimme fast entschuldigend. »Ich weiß, sie ist ein hässliches altes Ding, aber ich schätze, wenn Sie mal so alt sind wie meine Lippy, werden Sie auch nich mehr viele Schönheitswettbewerbe gewinnen!« Er tätschelte den aufgescheuerten und wund aussehenden Hals der Stute, packte dann deren kümmerliche Mähne, als wollte er sie mit den Wurzeln ausreißen (obwohl Lippy keine Schmerzen erkennen ließ), und drehte sie so auf der Straße um, dass sie wieder dem Häuschen zugewandt war. Dabei wirbelten die ersten Flocken des bevorstehenden Schneesturms durch die Luft.
»Komm jetzt, Lippy, du alte Ki’abteilung, du elender Klepper, du kreuzlahme Mähre, du verlorene vierbeinige Aussätzige! Kannst du nicht riechen, dass Schnee in der Luft liegt? Das kann sogar ich, und dabei ist mein Geruchssinn seit Jahren futsch!« Er wandte sich wieder an Roland und Susannah und sagte: »Ich hoffe, dass euch schmeckt, was ich koche, das tu ich, das hier sieht nämlich wie ein Dreitagesturm aus. Aye, mindestens drei Tage, bevor der
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