Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Joe! Dieses Foto …!«
»Aye, meine Liebe«, sagte er, hörbar über ihre Reaktion erfreut. »Das ist ein gutes Bild, stimmt’s? Darum hab ich’s ja aufgehängt. Ich hab noch andere, aber das hier ist das beste. Genau bei Sonnenuntergang, damit der Schatten wie ewiglich den Pfad des Balkens markiert. Was er in gewisser Weise tut, wie ihr beide bestimmt wisst.«
Rolands schnelle, keuchende Atemzüge, als hätte er gerade ein Wettrennen absolviert, drangen Susannah ins Ohr, aber sie nahm sie kaum wahr. Es war nämlich nicht nur der Gegenstand dieses Bildes, der sie so ehrfürchtig staunen ließ.
»Das ist eine Polaroidaufnahme!«
»Nun … yar«, sagte Joe, als könnte er sich ihre Aufregung nicht recht erklären. »Stotter-Bill hätte mir wahrscheinlich auch ’nen Kodak bringen können, wenn ich einen verlangt hätte, aber wo hätte ich den Film dann jemals entwickelt gekriegt? Und als ich an ’ne Videokamera gedacht hab – weil das Ding unter dem Fernseher nämlich solche Filme abspielen kann –, war ich zu alt, um die Tour noch mal zu machen, und mein Klepper auch zu alt, um mich zu tragen. Trotzdem würde ich sie noch mal machen, wenn ich könnte, weil’s dort nämlich wunderschön ist, ein Ort voller warmherziger Geister. Ich hab die singenden Stimmen längst verstorbener Freunde gehört, auch die von Ma und Pa. Ich wollt immer …«
Eine Lähmung hatte Roland erfasst. Er spürte sie in jeder Muskelfaser. Dann durchbrach er sie und wandte sich so rasch von dem Bild ab, dass es Susannah dabei fast schwindlig wurde. »Ihr wart dort?«, fragte er. »Ihr wart am Schwarzen Turm?«
»Klar war ich das«, sagte der Alte. »Wer, glaubt ihr, hat dieses Foto sonst gemacht? Der blöde Ansel Adams etwa?«
»Wann habt Ihr’s gemacht?«
»Das ist von meinem letzten Ausflug dorthin«, antwortete Joe. »Vor zwei Jahren, im Sommer – allerdings liegt das Land dort tiefer, müsst ihr wissen, und wenn dort jemals Schnee fällt, hab ich ihn nie gesehen.«
»Wie weit von hier?«
Joe kniff sein schlimmes Auge zusammen und rechnete nach. Zwar brauchte er dafür nicht lange, aber Roland und Susannah erschien diese Zeit lang, sehr lang. Draußen wehte der Wind in Stößen. Die alte Stute wieherte, als wollte sie nun gegen dieses Geräusch protestieren. Vor dem Wohnzimmerfenster mit den Eisblumen auf den Scheiben begann der fallende Schnee zu wirbeln und zu tanzen.
»Also«, sagte Joe schließlich, »ihr seid jetzt in Richtung Tiefland unterwegs, und Stotter-Bill räumt die Tower Road vom Schnee, so weit ihr gehen wollt; was sollte der alte Dingsbums sonst mit seiner Zeit anfangen? Natürlich müsst ihr erst mal hier abwarten, bis dieser jesusmäßige Nordoststurm sich ausgeweht hat …«
»Also, wie lange dauert es, sobald wir von hier aufgebrochen sind?«, fragte Roland.
»Sie können’s wohl kaum erwarten, was? Aye, echt scharf drauf, und warum auch nich, wo Sie doch aus der Innerwelt kommen, müssen Sie lange Jahre unterwegs gewesen sein, um bis hierher zu kommen. Mag mir gar nich vorstellen, wie viele. Na, ich schätz mal, dass ihr sechs Tage brauchen werdet, um aus den Weißen Landen rauszukommen, vielleicht sieben …«
»Nennt ihr diese Lande Empathica?«, fragte Susannah.
Er blinzelte, dann warf er ihr einen verwirrten Blick zu. »Äh, nein, Ma’am – ich hab diesen Teil der Schöpfung nie anders als die Weißen Lande nennen gehört.«
Die Verwirrung war nur gespielt. Da war sie sich fast sicher. Der alte Joe Collins, fröhlich wie der Weihnachtsmann in einem Kinderstück, hatte sie gerade belogen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, aber bevor sie nachhaken konnte, fragte Roland scharf: »Lässt du das bitte vorläufig? Lässt du’s um deines Vaters willen?«
»Ja, Roland«, sagte sie eingeschüchtert. »Natürlich.«
Roland, der Susannah weiter auf seiner Hüfte trug, wandte sich wieder an Joe.
»Könnt bis zu neun Tage lang dauern, schätz ich«, sagte Joe, während er sich am Kinn kratzte, »weil die Straße nämlich verdammt glatt sein kann, vor allem wenn Bill den Schnee walzt, aber das kann man ihm nun mal nich abgewöhnen. Er hat seine Anweisungen, wo er befolgen muss. Seine Programmierung, wie er’s nennt.« Der Alte merkte, dass Roland etwas sagen wollte, und hob eine Hand. »Nay, nay, ich trödle nich absichtlich, um Sie zu ärgern, Sir oder Sai oder was Ihnen lieber ist –, ich bin nur nich viel Besuch gewöhnt. Also, sobald ihr unterhalb der Schneegrenze seid, sind’s noch
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