Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Zettel vom Boden auf und enträtselte mühsam, was auf der Rückseite stand. Das einzige Wort, bei dem sie ihm helfen musste, war Medizinschrank. »›Ich habe etwas für dich zurückgelassen.‹ Hast du schon nachgesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte noch keine Zeit dazu.«
»Wo ist dieser Medizinschrank?«
Sie zeigte auf den Spiegel, und Roland zog an dem Griff, mit dem er sich schwenken ließ. Die Schranktür quietschte in den Angeln. Dahinter befanden sich tatsächlich Fächer, aber statt der ordentlich aufgereihten Fläschchen mit Pillen und Tinkturen, die sie sich vorgestellt hatte, enthielt der Schrank lediglich zwei weitere kleine braune Flaschen wie die auf dem Beistelltisch neben dem La-Z-Boy sowie eine Schachtel, die Susannah wie die älteste Packung der Welt von Smith Brothers Wild Cherry Cough Drops erschien. Im untersten Fach jedoch lag zudem ein Umschlag, den Roland sofort an Susannah weiterreichte. Auf der Vorderseite stand in derselben unverkennbaren Schrift, die halb Druckschrift, halb Schreibschrift war:
Junker Roland aus Gilead
Susannah Dean aus New York
Ihr habt mir das Leben gerettet.
Ich habe eures gerettet.
Nun sind wir quitt.
S.K.
»›Junker‹?«, sagte Susannah. »Sagt dir das etwas?«
Roland nickte. »Das Wort bezeichnet einen jungen Edelmann – oder Revolvermann –, bevor er sein Erbe richtig antritt. Ein förmlicher, altehrwürdiger Ausdruck. Wir haben ihn untereinander allerdings nie benutzt, weil er auch ›heilig, von Ka auserwählt‹ bedeutet. So haben wir uns eigentlich nie sehen wollen, und ich habe seit vielen Jahren nicht mehr so von mir gedacht.«
»Trotzdem bist du Junker Roland?«
»Der war ich vielleicht einmal. Über solche Dinge sind wir jetzt hinaus. Jenseits des Ka. Davon bin ich überzeugt.«
»Aber weiterhin auf dem Pfad des Balkens.«
»Aye.« Er fuhr die letzte Zeile mit dem Finger nach: Nun sind wir quitt. »Mach den Umschlag auf, Susannah, ich möchte sehen, was er enthält.«
Sie tat wie geheißen.
4
Der Umschlag enthielt die Fotokopie eines Gedichts von Robert Browning. King hatte den Namen des Dichters in seiner Schrift, die halb Druckschrift, halb Schreibschrift war, über dem Titel vermerkt. Susannah hatte einige von Brownings dramatischen Monologen gelesen, als sie noch im College war, aber dieses Gedicht kannte sie nicht. Äußerst gut kannte sie jedoch sein Thema, denn der Titel des Gedichts lautete »Junker Roland kam zum finstern Turm«. Es war ein erzählendes Gedicht mit dem Reimschema einer Ballade (a-b-b-a-a-b) und vierunddreißig Verse lang. Jeder Vers war mit einer römischen Ordnungszahl bezeichnet. Irgendjemand – vermutlich King – hatte die Ziffern I, II, XIII, XIV und XVI umringelt.
»Lies die gekennzeichneten Verse vor«, sagte er heiser, »ich kann nämlich nur einzelne Wörter entziffern, möchte aber wissen, was hier steht, möchte es sehr wohl wissen.«
»Vers Nummer eins«, begann sie, dann musste sie sich räuspern. Ihre Kehle war trocken. Draußen heulte der Wind, und die nackte Glühbirne über ihnen flackerte in ihrer mit Fliegendreck übersäten Fassung.
»Zuerst durchfuhr mich’s: Lug ist, was er spricht,
Der weißgeharrte Krüppel, dessen Blicke
Voll Bosheit schielen, ob die Lüge glücke;
Wie zuckt der falsche Mund, als trüg er’s nicht
Den Hohn zu hehlen, der verdammte Wicht,
Ob diesem neuen Opfer seiner Tücke!«
»Collins«, sagte Roland. »Wer das geschrieben hat, hat von Collins gesprochen, so gewiss wie King in seinen Geschichten jemals von unserem Ka-Tet gesprochen hat! ›Lug ist, was er spricht!‹ Aye, jedes Wort eine Lüge!«
»Nicht Collins«, sagte sie. »Dandelo.«
Roland nickte. »Dandelo, gewisslich wahr. Weiter.«
»Okay, Vers Nummer zwei.
Wozu stand er mit seinem Stab sonst da,
Als daß er allen Wandrern Schlingen lege,
Die gläubig ihn befragt um Pfad’ und Stege?
Sein schädelgleiches Lachen hört’ ich, sah
Im Geist die Krücke meine Grabschrift, ha!
Kritzeln, zum Zeitvertreib, im staub’gen Wege.«
»Erinnerst du dich an seinen Stock – und wie er ihn geschwenkt hat?«, fragte Roland sie.
Natürlich tat sie das. Und der Weg war nicht staubig, sondern verschneit gewesen, aber sonst stimmte alles. Sonst war dies eine genaue Beschreibung dessen, was ihnen gerade zugestoßen war. Dieser Gedanke ließ sie erschauern.
»Hat dieser Dichter zu deiner Zeit gelebt?«, fragte Roland. »In deinem Wann?«
Sie
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