Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
die Hände. Sie waren leer. Natürlich waren sie das, immerhin gebrauchte er nicht seine Hände, um zu töten. Während er das tat, liefen seine Gesichtszüge zusammen und wurden immer flächenhafter – bis überhaupt keine Gesichtszüge mehr da waren, sondern nur Markierungen wie auf einem Tierfell oder Insektenpanzer.
»Halt!«, rief er mit einer Stimme, die höher geworden war und an das Schrillen einer Zikade erinnerte. »Ich will dir den vom Erzbischof und dem Revuegirl erzählen!«
»Kenn ich schon«, sagte sie und drückte zweimal ab, sodass eine Kugel der anderen unmittelbar über der Stelle, wo das rechte Auge gesessen hatte, in das Gehirn ihres Gegners folgte.
2
Roland rappelte sich torkelnd auf. Das Haar klebte ihm schweißnass an den Seiten des aufgedunsenen Gesichts. Als Susannah seine Hand ergreifen wollte, machte er eine abwehrende Bewegung und stolperte zur Tür des kleinen Häuschens, das ihr jetzt schmuddelig und schlecht beleuchtet erschien. Sie sah Essensreste auf dem Teppich und einen großen Feuchtigkeitsfleck an einer Wand. Waren diese Dinge schon vorher da gewesen? Und großer Gott im Himmel, was hatten sie eigentlich zu Abend gegessen? Sie überlegte sich, dass sie das lieber nicht wissen wollte, solange ihr davon nicht schlecht wurde. Solange es nicht vergiftet gewesen war.
Roland von Gilead zog die Haustür auf. Der Wind riss sie ihm aus der Hand und ließ sie an die Flurwand knallen. Er stolperte zwei Schritte in den heulenden Schneesturm hinaus, beugte sich mit auf die Knie gestützten Händen nach vorn und übergab sich. Sie sah, wie der Wind den Strom von Erbrochenem in die Dunkelheit davontrug. Als Roland wieder hereinkam, waren Haar, Gesicht und Kleidung ganz voll geschneit. In dem Landhäuschen war es zum Ersticken heiß; auch das war etwas, worüber Dandelos Glammer sie bisher hinweggetäuscht hatte. Sie sah, dass der Thermostat – ein schlichter alter Honeywell, nicht viel anders als der in ihrer Wohnung in New York – noch an der Wand hing. Als sie die Einstellung kontrollierte, sah sie, dass er bis zum Anschlag nach rechts gedreht war – sogar über die 30-Grad-Marke hinaus. Sie stellte ihn mit einem Finger auf zweiundzwanzig Grad zurück, dann drehte sie sich um und begutachtete den Raum. Der offene Kamin war in Wirklichkeit doppelt so groß, wie er ihnen erschienen war, und so voller Holzscheite, dass er wie ein Hochofen brauste. Dagegen ließ sich vorerst nichts machen, das Feuer würde irgendwie von selbst niederbrennen.
Das tote Ding auf dem Teppich hatte seine Kleidung größtenteils gesprengt. Susannah erschien es jetzt wie eine Art Käfer, dessen missgebildete Gliedmaßen – Armen und Beinen nur halbwegs ähnlich – aus den Hemdärmeln und Jeansbeinen ragten. Der Hemdrücken war in der Mitte der Länge nach aufgeplatzt, und in dem Spalt sah sie eine Art Panzer, auf den rudimentäre menschliche Gesichtszüge aufgemalt waren. Sie hätte nicht geglaubt, dass irgendetwas schrecklicher sein könnte als Mordred in seiner Spinnengestalt, aber dieses Ding hier war tatsächlich noch schlimmer. Gott sei Dank war es tot.
Das aufgeräumte, gut beleuchtete Häuschen – wie aus einem Märchen, war’s ihr nicht von Anfang an so erschienen? – war jetzt eine düstere, rauchige Bauernkate. Das elektrische Licht war immer noch da, aber die Lampen sahen alt und verbraucht aus, nicht anders als welche, die man in einer schäbigen Absteige zu sehen erwartete. Der Flickenteppich starrte vor Schmutz, hatte zahlreiche Flecken von Essensresten und löste sich an einigen Stellen bereits auf.
»Roland, alles in Ordnung mit dir?«
Roland sah sie an, dann sank er langsam vor ihr auf die Knie. Im ersten Augenblick glaubte sie, dass er ohnmächtig wurde, und war besorgt. Als sie dann in der nächsten Sekunde erkannte, was da wirklich geschah, wurde sie noch besorgter.
»Revolvermann, ich habe mich überlisten lassen«, sagte Roland mit heiserer, zitternder Stimme. »Ich habe mich wie ein Kind täuschen lassen, und ich erflehe deine Verzeihung.«
»Roland, nein! Steh auf!« Das war Detta, die immer nach vorn zu kommen schien, wenn Susannah unter starkem Stress stand. Ein Wunder, dass ich nicht »Steh auf, Weißbrot!« gesagt habe, dachte sie und musste ein hysterisches Lachen unterdrücken. Er hätte es nicht verstanden.
»Erst musst du mir Verzeihung gewähren«, sagte Roland, ohne sie anzusehen.
Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach dem richtigen Spruch und fand ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher