Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schüttelte den Kopf. »Nicht mal in meinem Land. Er ist mindestens sechzig Jahre vor meinem Wann gestorben.«
»Trotzdem muss er gesehen haben, was sich vorhin ereignet hat. Zumindest eine Version davon.«
»Ja. Und Stephen King hat das Gedicht gekannt.« Sie hatte plötzlich eine Intuition, die zu hell erstrahlte, um etwas anderes als die Wahrheit sein zu können. Sie starrte Roland mit wildem, erschrockenen Blick an. »Dieses Gedicht hat King zu allem angeregt! Es war seine Inspiration!«
»Sagst du das, Susannah?«
»Ja!«
»Trotzdem muss dieser Browning uns gesehen haben.«
Das konnte sie nicht sagen. Alles war jetzt viel zu verwirrend. Wie die Frage, was zuerst da war, die Henne oder das Ei. Oder als ob man sich in einem Spiegelkabinett verirrt hätte. Sie fühlte sich leicht schwindelig.
»Lies den nächsten Vers vor, Susannah! Lies X-I-I-I vor.«
»Das ist Vers Nummer dreizehn«, sagte sie.
»Spärlich das Gras, wie Aussatzkranker Haar;
Im Kote, der mit Blut verknetet schien,
Stak hier und da ein kläglich Hähnchen drin.
Ein blindes Pferd, des Glieder steif und starr,
Stand staunend, wie’s hierher verschlagen war:
Alt und verbraucht, hieß es der Teufel ziehn.
Und jetzt bist du dran, Vers Nummer vierzehn.
Ob es noch lebt? Es stand vielleicht seit Stunden,
Den roten hagern Hals weit vorgereckt,
Von rost’ger Mähne dicht das Aug’ verdeckt;
War je solch Grau’n mit solchem Leid verbunden?
So tiefen Abscheu hatt’ ich nie empfunden:
Es war verdammt, sonst hätt’ es Weh geweckt!«
»Lippy«, sagte der Revolvermann und wies mit einem Daumen über die Schulter. »Jener Klepper, mit schwieligem Hals und allem, nur dass er eine Stute ist.«
Susannah gab keine Antwort – brauchte auch keine zu geben. Natürlich war das Lippy: blind und knochig, ihr Hals an einigen Stellen rosa aufgescheuert und schwielig. Ich weiß, sie ist ein hässliches altes Ding, hatte der alte Mann gesagt … jenes Wesen, das wie ein alter Mann ausgesehen hatte. Du alte Ki’abteilung, du elender Klepper, du verlorene vierbeinige Aussätzige! Und hier stand es schwarz auf weiß, in einem Gedicht, das sogar lange vor Sai Kings Geburt geschrieben worden war, vielleicht achtzig oder hundert Jahre früher: spärlich … wie Aussatzkranker Haar.
»›Alt und verbraucht, ließ es der Teufel ziehn!‹«, sagte Roland und lächelte grimmig. »Und bevor wir von hier fortgehen, schicken wir sie wieder zum Teufel.«
»Nein«, sagte sie. »Das werden wir nicht tun.« Ihre Stimme klang trockener als je zuvor. Sie wollte etwas trinken, aber sie fürchtete sich jetzt, etwas, was aus den Wasserhähnen dieser abscheulichen Bude kam, zu sich zu nehmen. Später würde sie Schnee hereinholen und schmelzen. Dann würde sie auch trinken, aber nicht vorher.
»Warum sagst du das?«
»Weil sie fort ist. Sie ist in den Sturm hinausgelaufen, als wir ihren Herrn überwältigt haben.«
»Woher weißt du das?«
Susannah wiegte den Kopf. »Ich weiß es eben.« Sie schlug die nächste Seite des über zweihundert Zeilen langen Gedichts auf. »Vers Nummer sechzehn.«
Sie hielt inne.
»Susannah? Wieso liest du nicht …« Dann fiel sein Blick auf das zweite Wort, das er selbst in lateinischer Schrift lesen konnte. »Weiter«, sagte er. Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern.
»Willst du das wirklich?«
»Lies, denn ich möchte es hören.«
Sie räusperte sich. »Vers Nummer sechzehn.
Jung Cuthberts blühend Antlitz rief ich wach,
Um das die goldnen Locken fröhlich wallten;
Mir wär’s, als legt’ er, um mich festzuhalten,
Zärtlich den Arm in meinen, wie er pflog,
Der liebe Bursch … Ach, eine Nacht der Schmach! …
Die Glut erlosch, mein Herz fühlt’ ich erkalten.«
»Er schreibt von Mejis«, sagte Roland. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, aber sie bezweifelte, dass er sich dessen bewusst war. »Er schreibt, wie wir uns wegen Susan Delgado entzweit haben, danach war es zwischen uns nämlich nie mehr wie früher. Wir haben unsere Freundschaft gekittet, so gut es ging, aber ganz wie früher war’s nie wieder.«
»Findet die Frau den Mann oder der Mann die Frau, ist es nie mehr wie früher«, sagte sie und gab ihm die fotokopierten Seiten. »Hier, die sind für dich. Ich habe alle markierten Verse vorgelesen. Wenn der Rest davon handelt, wie der Held zum dunklen Turm kommt – oder auch nicht –, musst du sie selbst enträtseln. Das kannst du, wenn du dir Mühe gibst, nehme ich
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