Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
hatte er fast keinerlei Gefühle gehabt, und obwohl das eine recht beschränkte Lebensart war, war sie in mancher Beziehung gar nicht so übel gewesen; zumindest vergeudete man keine Zeit damit, sich zu fragen, ob man sich bei Tieren dafür entschuldigen sollte, dass man sie angeschnauzt hatte, bei allen Göttern!
Roland ging vor der Rose in die Hocke und beugte sich der beruhigenden Macht ihres Gesangs und der Lichtflut – dem heilenden Licht – aus ihrer Mitte entgegen. Dann trompetete Patrick ihn an und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, er solle zur Seite treten, damit er die Rose zum Zeichnen besser sehen könne. Diese Aufforderung steigerte Rolands Gefühl der Entfremdung und Verärgerung nur noch mehr, aber er trat widerspruchslos zur Seite. Schließlich hatte er Patrick doch gebeten, sie zu zeichnen. Er stellte sich vor, wie ihre Blicke sich amüsiert verständnisvoll begegnet wären, wenn Susannah jetzt hier gewesen wäre: wie die eines Elternpaares bei den Mätzchen ihres Jüngsten. Aber sie war natürlich nicht hier; sie war die letzte der drei gewesen, und nun war auch sie fort.
»Schön, kannst du dein Motiv jetzt besser sehen?«, fragte er. Das sollte heiter klingen, aber es klang nur unleidlich – müde und unleidlich.
Zumindest Patrick reagierte nicht auf die Schroffheit im Ton des Revolvermanns; er hat wahrscheinlich nicht mal gehört, was ich gesagt habe, dachte Roland. Der stumme Junge hatte seinen halb vollen Teller neben sich abgestellt, saß nun im Schneidersitz da und balancierte den Zeichenblock auf den Oberschenkeln.
»Vergiss nicht, zwischendurch was zu essen«, sagte Roland und zeigte auf den Teller. »Denk daran, ja?« Als ihm das lediglich ein weiteres zerstreutes Nicken einbrachte, gab er auf. »Ich lege mich jetzt aufs Ohr, Patrick. Es wird ein langer Nachmittag werden.« Und eine noch längere Nacht, fügte er bei sich hinzu … aber trotzdem konnte er sich mit demselben Gedanken trösten wie Mordred: Diese Nacht würde voraussichtlich die letzte sein. Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was ihn im Dunklen Turm am Ende des Rosenfeldes erwartete, aber selbst wenn er dort dem Treiben des Scharlachroten Königs ein Ende machen sollte, morgen würde bestimmt sein letzter Marschtag sein. Er glaubte nicht, dass er das Can’-Ka No Rey jemals wieder verlassen würde, und das war auch in Ordnung. Er war sehr müde. Und traurig – trotz der Heilkraft der Rose.
Roland von Gilead legte einen Arm über die Augen und war sofort eingeschlafen.
4
Er hatte noch nicht lange geschlafen, als Patrick ihn mit kindlicher Begeisterung weckte, um ihm das erste fertige Bild der Rose zu zeigen – dem Sonnenstand nach waren erst zehn, höchstens fünfzehn Minuten vergangen.
Wie alle seine Zeichnungen besaß auch diese eine geheimnisvolle Macht. Obwohl Patrick nur mit einem Bleistift auskommen musste, hatte er die Rose unglaublich lebensecht dargestellt. Trotzdem wäre Roland eine weitere Stunde Schlaf erheblich lieber gewesen als diese Übung in Kunstsinnigkeit. Aber er nickte anerkennend – in Gegenwart solcher Schönheit bloß kein Nörgeln und keinen Missmut mehr, hatte er sich vorgenommen –, und Patrick, schon über so etwas Geringes überglücklich, lächelte. Er blätterte um und machte sich daran, die Rose ein weiteres Mal zu zeichnen. Je ein Bild für sie beide, genau wie Roland es verlangt hatte.
Roland hätte jetzt wieder schlafen können, aber wozu? Der stumme Junge würde das zweite Bild in wenigen Minuten fertig haben und ihn nur erneut wecken. Stattdessen ging er also zu Oy hinüber und streichelte den dicken Pelz des Bumblers. Das war etwas, was er selten tat.
»Tut mir Leid, dass ich dich so hart angefahren habe, kleiner Freund«, sagte Roland. »Willst du mir nicht ein Wort gönnen?«
Aber das wollte Oy nicht.
Eine Viertelstunde später lud Roland die wenigen Dinge auf, die er vom Wagen genommen hatte, spuckte sich in die Hände und packte wieder die Zuggriffe. Der Wagen war jetzt leichter, musste es sein, aber er fühlte sich dennoch schwerer an.
Natürlich ist er schwerer, dachte Roland. Er ist mit meinem Kummer beladen. Den ziehe ich jetzt überall mit mir herum, ja, das tue ich.
Wenig später wurde Ho Fat II auch durch Patrick Danville belastet. Er kroch hinauf, machte sich ein kleines Nest und schlief fast augenblicklich ein. Roland schleppte sich weiter – mit hängendem Kopf, sein Schatten von den Absätzen an länger werdend. Oy lief neben ihm
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