Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
erfassten ihn Krämpfe, die bisher schlimmsten. Mordred krümmte sich zusammen, kämpfte darum, seine Menschengestalt zu behalten, kämpfte darum, nicht zu schreien, kämpfte darum, nicht zu sterben. Er hörte einen weiteren dieser von unten kommenden langen Furzlaute und spürte, dass ihm wieder etwas von der braunen Brühe die Beine hinunterlief. Seine übernatürlich empfindliche Nase roch diesmal jedoch mehr als nur Exkremente; diesmal roch sie Blut in der Scheiße. Er dachte schon, die Schmerzen würden niemals aufhören, sie würden immer stärker und stärker werden, bis sie ihn entzweirissen, aber dann ließen sie doch allmählich nach. Er blickte auf seine linke Hand hinunter und war nicht sonderlich überrascht, als er sah, dass die Finger schwarz geworden und zusammengewachsen waren. Diese Finger würden nun nie mehr wieder zu Menschenfingern werden; ganz bestimmt konnte er sich nur noch einmal verwandeln. Mordred wischte sich mit der Rechten den Schweiß von der Stirn, hob den Weit-Seher wieder an die Augen und betete zu seinem Roten Daddy, der einfältige stumme Junge möge eingeschlafen sein. Aber das war er nicht. Er lehnte mit dem Rücken an der Pappel, sah durchs Geäst nach oben und zeichnete die Alte Mutter. Das war der Augenblick, in dem Mordred Deschain der Verzweiflung am nächsten war. Wie Roland, so glaubte auch er, dass Zeichnen die einzige Tätigkeit war, die den Dämlack zuverlässig am Einschlafen hindern konnte. Warum also nicht die Verwandlung zulassen, solange er aus der zerstörerischen Hitze dieses jüngsten Fieberanfalls noch Energie schöpfen konnte? Warum nicht diese Gelegenheit nutzen? Schließlich hatte er es auf Roland abgesehen, nicht auf den Jungen; in seiner Spinnengestalt konnte er sicherlich schnell genug über den Revolvermann herfallen, um ihn zu packen und an seinen gierigen Rachen zu führen. Der Alte Weiße Daddy würde vielleicht noch einen Schuss oder sogar zwei abgeben können, aber Mordred glaubte, einen oder zwei aushalten zu können, wenn das fliegende Blei nicht den weißen Höcker auf dem Rücken der Spinne traf: das Gehirn seines Doppelkörpers. Und wenn ich ihn erst einmal gepackt habe, dann lasse ich ihn nicht mehr los, bis er ausgesaugt ist und nur noch eine Staubmumie wie jene andere, Mia. Er entspannte sich und machte sich bereit, die Verwandlung über sich ergehen zu lassen, als auf einmal eine weitere Stimme mitten in seinem Kopf zu ihm sprach. Das war die Stimme seines Roten Daddys, der auf einem Balkon des Dunklen Turms gefangen gesetzt und darauf angewiesen war, dass Mordred überlebte, mindestens noch einen Tag länger lebte, damit er seinen Vater befreien konnte.
Warte noch, riet diese Stimme ihm. Warte noch etwas. Ich habe vielleicht noch einen Trumpf im Ärmel. Warte … warte nur noch ein wenig …
Mordred wartete. Und nach wenigen Augenblicken spürte er, wie das Pulsieren des Dunklen Turms sich veränderte.
8
Auch Patrick nahm diese Veränderung wahr. Das Pulsieren wurde beruhigend, einlullend. Und mit ihm kamen Worte, die seinen Zeicheneifer dämpften. Er zog noch einen Strich, machte dann eine Pause, legte den Bleistift weg und sah untätig zur Alten Mutter auf, die im Gleichtakt zu den Worten, die er in seinem Kopf hörte, zu pulsieren schien – zu Worten, die Roland gekannt hätte. Nur wurden sie heute von einer zwar zitternden, aber dennoch lieblichen Greisenstimme gesungen.
»Kleiner Spatz, der Tag ist ’rum,
Dreh dich in deinem Bettchen um.
Schöne Träume mögen dich beehren,
Von Feldern und von süßen Beeren.
Kleiner Spatz, mach’s mir nicht schwer,
Bring dein kleines Körbchen her.
Schripp und schrapp und schrull,
Und schon ist das Körbchen voll.«
Patricks Kopf sank herab. Seine Augen schlossen sich … öffneten sich … fielen wieder zu.
Und schon ist mein Körbchen voll, dachte er und schlief im Feuerschein tief und fest.
9
Jetzt, mein guter Sohn, flüsterte die kalte Stimme mitten in Mordreds heißem und zerfließendem Gehirn. Jetzt! Geh zu ihm, und sorg dafür, dass er sich nie mehr aus seinem Schlaf erhebt. Ermorde ihn zwischen den Rosen, dann werden wir gemeinsam herrschen.
Mordred kam aus seinem Versteck, und das Fernglas fiel ihm sich überschlagend aus einer Hand, die gar keine Hand mehr war. Während er seine Spinnengestalt annahm, durchflutete ihn ein gewaltiges, zuversichtliches Machtgefühl. In wenigen Minuten würde alles vorbei sein. Sie schliefen nun beide
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