Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
ausgetrockneten Bachbett saß und Oys Kadaver wie eine Stola über den Knien liegen hatte. Der Junge gab einen sanft trompetenden Fragelaut von sich.
»Nicht jetzt, Patrick«, sagte Roland geistesabwesend und streichelte Oy über den dichten, aber dennoch seidenweichen Pelz. Trotz der einsetzenden Muskelstarre und der verfilzten Stellen, wo das Blut jetzt geronnen war, konnte er kaum glauben, dass das Wesen darunter nicht mehr lebte. Diese Stellen glättete er nun mit den Fingern, so gut er konnte. »Nicht jetzt. Wir haben den ganzen lieben langen Tag Zeit, dorthin zu kommen; das schaffen wir leicht.«
Nein, sie brauchten sich nicht zu beeilen; es gab keinen Grund, weshalb er den letzten seiner Toten nicht geruhsam betrauern sollte. In der Stimme des alten Königs hatte keinerlei Zweifel gelegen, als er angekündigt hatte, Roland werde an Altersschwäche sterben, bevor er auch nur die Tür am Fuß des Dunklen Turms berühre. Sie würden natürlich hingehen, und Roland würde das Terrain sondieren, aber er wusste schon jetzt, dass seine Idee, sich dem Turm von der Seite aus zu nähern, die das alte Ungeheuer nicht einsehen konnte, und sich dann zum Eingang vorzuarbeiten, gar keine Idee, sondern nur eine törichte Hoffnung war. Aus der Stimme des alten Schurken hatte keinerlei Zweifel gesprochen – auch kein unterschwelliger.
Aber vorläufig spielte nichts davon eine Rolle. Hier lag ein weiterer Toter, der durch seine Schuld umgekommen war, und falls es irgendeinen Trost gab, dann war es dieser: Oy würde der Letzte sein. Abgesehen von Patrick war er jetzt wieder allein, und Roland glaubte zu wissen, dass Patrick gegen den schrecklichen Bazillus immun war, den der Revolvermann in sich trug, weil der Junge nie zu seinem Ka-Tet gehört hatte.
Ich morde nur meine Angehörigen, dachte Roland und streichelte den toten Billy-Bumbler.
Was am meisten schmerzte, waren die unfreundlichen Worte, mit denen er Oy am Vortag angefahren hatte. Wenn du mit ihr gehen wolltest, hättest du das tun sollen, als du Gelegenheit dazu hattest!
War der Kleine geblieben, weil er wusste, dass Roland ihn brauchen würde? Dass Patrick versagen würde, wenn es hart auf hart ging (wieder so einer von Eddies Ausdrücken)?
Willst du mich jetzt etwa ewig mit deinem traurigen Hundeblick verfolgen?
Hatte er so geblickt, weil er gewusst hatte, dass dies sein letzter Tag sein und er einen schweren Tod sterben würde?
»Ich glaube, du hast das alles gewusst«, murmelte Roland und schloss die Augen, um den Pelz unter den Händen besser spüren zu können. »Tut mir Leid, dass ich so mit dir gesprochen habe – ich würde die Finger meiner gesunden Linken dafür geben, wenn ich die Worte zurücknehmen könnte. Das täte ich, jeden einzelnen, gewisslich wahr.«
Aber wie in der Fundamentalen Welt lief die Zeit hier nur in einer Richtung. Was geschehen war, war geschehen. Nichts ließ sich ungeschehen machen.
Roland hätte behauptet, zu keinem Zorn mehr imstande zu sein, weil er restlos ausgebrannt sei, aber als er nun ein Kribbeln auf der ganzen Haut spürte und schließlich auch merkte, woher es kam, fühlte er neuen Zorn in sich aufsteigen.
Patrick zeichnete ihn! Saß unter der Pappel, als wäre an ebendiesem Baum nicht ein tapferes kleines Wesen, das zehnmal wertvoller war als er – nein, hundertmal mehr! – gestorben, für sie beide gestorben.
Das ist eben seine Art, sagte Susannah ruhig und sanft in den Tiefen seines Verstandes. Das ist alles, was er hat, alles andere ist ihm genommen worden – seine Heimatwelt ebenso wie seine Mutter und seine Zunge und was er an Verstand besessen haben mag. Auch er trauert, Roland. Auch er hat Angst. Nur so kann er etwas Trost finden.
Alles zweifellos wahr. In Wirklichkeit steigerte diese Wahrheit seinen Zorn jedoch, statt ihn zu dämpfen. Roland legte den verbliebenen Revolver beiseite (er lag glänzend zwischen zweien der singenden Rosen), weil er ihn lieber nicht griffbereit haben wollte, jedenfalls nicht in seiner gegenwärtigen Stimmung. Dann stand er auf, um Patrick auszuzanken, wie dieser sein Leben lang noch nicht ausgeschimpft worden war – aus keinem anderen Grund, als dass er sich danach etwas besser fühlen würde. Er konnte bereits seine ersten Worte hören. Dir macht’s wohl Spaß, die zu zeichnen, die dir dein wertloses Leben gerettet haben, du dämlicher Knabe? Du kannst dir wohl nichts Schöneres vorstellen.
Als er den Mund öffnete, um anzufangen, legte Patrick den Bleistift weg und
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