Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
griff stattdessen nach seinem neuen Spielzeug. Der Radiergummi war bereits halb aufgebraucht, und Ersatz gab es keinen; Susannah hatte nämlich nicht nur Rolands anderen Revolver, sondern auch die kleinen rosa Gummidinger mitgenommen – vermutlich aus keinem anderen Grund, als dass sie das Glas in der Tasche gehabt, gegenwärtig aber an wichtigere Dinge zu denken gehabt hatte. Patrick hielt den Radiergummi über die Zeichnung, blickte dann auf – vielleicht um sich zu vergewissern, dass er wirklich etwas ausradieren wollte – und sah den Revolvermann im Bachbett stehen, wie dieser ihn stirnrunzelnd betrachtete. Obwohl er sich den Grund dafür vermutlich nicht erklären konnte, wusste Patrick sofort, dass Roland zornig war, und seine Gesichtszüge verkrampften sich augenblicklich vor Angst und Traurigkeit. Roland sah ihn jetzt, wie Dandelo ihn unzählige Male gesehen haben musste, und sein Zorn verflog bei diesem Gedanken im Nu. Er würde Patrick keinen Grund geben, ihn zu fürchten – wenn schon nicht um seiner selbst willen, würde er ihm um Susannahs willen keinen Grund dafür geben.
Aber er entdeckte schließlich, dass er es doch um seiner selbst willen tat.
Warum erschießt du ihn dann nicht?, fragte die listige, pulsierende Stimme in seinem Kopf. Willst du ihn nicht lieber erschießen und von seinen Qualen erlösen, wenn du so zärtliche Gefühle für ihn hegst? Er und der Bumbler können die Lichtung gemeinsam betreten. Sie können dir dort einen Platz reservieren, Revolvermann.
Roland schüttelte den Kopf und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. »Nay, Patrick, Sohn der Sonia«, sagte er (so hatte Bill der Roboter den Jungen angesprochen). »Nay, ich hatte Unrecht – wieder einmal – und werde dich nicht schelten. Aber …«
Er kam auf den Baum zu, unter dem der Junge saß. Patrick wich mit einem hündischen, besänftigenden Lächeln, das Roland gleich wieder wütend machte, vor ihm zurück, aber diese Gefühlsregung unterdrückte der Revolvermann ohne größere Mühe. Patrick, der Oy ebenfalls geliebt hatte, konnte seine Trauer eben nur auf diese Weise verarbeiten.
Das kümmerte Roland jetzt nicht mehr.
Er beugte sich hinunter und nahm dem Jungen behutsam den Radiergummi aus den Fingern. Patrick sah fragend zu ihm auf, dann streckte er die Hand aus und bat mit Blicken darum, Roland solle ihm sein wundervolles (und nützliches) neues Spielzeug zurückgeben.
»Nay«, sagte Roland, so sanft er konnte. »Die Götter mögen wissen, wie viele Jahre du zurechtgekommen bist, ohne auch nur zu wissen, dass es solche Dinger gibt; also wirst du es wohl auch für den Rest dieses einen Tages aushalten. Vielleicht wird es zu einem späteren Zeitpunkt etwas geben, was du zeichnen sollst – um es dann möglicherweise wieder auszulöschen. Du weißt, was ich meine, Patrick?«
Das tat Patrick zwar nicht, aber sobald der Radiergummi wieder sicher in der Brusttasche mit Rolands Uhr versorgt war, schien er ihn einfach zu vergessen und wandte sich wieder seiner Zeichnung zu.
»Leg auch dein Bild eine Weile beiseite«, forderte Roland ihn nun auf.
Patrick gehorchte, ohne widersprechen zu wollen. Er zeigte erst auf den Karren und dann auf die Tower Road, wobei er seinen trompetenden Fragelaut von sich gab.
»Aye«, sagte Roland, »aber zuvor sollten wir nachsehen, was Mordred an Gunna dabeihatte – vielleicht findet sich etwas Nützliches darunter –, und unseren Freund begraben. Willst du mithelfen, Oy zu begraben, Patrick?«
Dazu war Patrick bereit, und das Begräbnis kurz darauf dauerte nicht lange; der Körper des Billy-Bumblers war viel kleiner als das Herz, das in ihm geschlagen hatte. Am späten Vormittag waren sie bereits unterwegs, um die letzten Meilen der zum Dunklen Turm führenden langen Straße zurückzulegen.
Kapitel III
D ER S CHARLACHROTE K ÖNIG UND DER D UNKLE T URM
1
Die Straße und ebenso die Erzählung sind lang gewesen, findet ihr nicht auch? Die Reise war lang, und der Preis war hoch … aber nichts Großes ist jemals mühelos erreicht worden. Eine lange Erzählung muss wie ein hoher Turm Stein für Stein erbaut werden. Nun jedoch, wo das Ende näher rückt, müsst ihr jene beiden Reisenden, die zu Fuß auf uns zukommen, sehr aufmerksam betrachten. Der ältere Mann – derjenige mit dem sonnengebräunten, von Falten durchzogenen Gesicht und dem Revolver an der Hüfte – zieht den Karren, den sie Ho Fat II nennen. Der Jüngere – jener mit dem übergroßen Zeichenblock, den er
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