Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Himmels verdeckte.
Patrick machte neben ihm Halt und trompetete fragend.
»Siehst du ihn?«, fragte Roland. Seine Stimme war heiser, vor Staunen brüchig. Bevor Patrick antworten konnte, zeigte der Revolvermann auf das, was der Junge um den Hals hängen hatte. Letztlich war das Fernglas der einzige Gegenstand von Mordreds kümmerlichen Gunna gewesen, der das Mitnehmen wirklich gelohnt hatte.
»Gib mal her, Pat.«
Patrick gab es bereitwillig her. Roland hob das Fernglas an die Augen, drehte ein bisschen an der Rändelschraube der Scharfeinstellung und hielt dann den Atem an, weil er die Turmspitze plötzlich scheinbar zum Greifen nahe vor sich hatte. Wie viel davon war über dem Horizont sichtbar? Wie viel konnte er sehen? Zehn Meter? Vielleicht fünfzehn? Schwer zu sagen, aber er konnte mindestens drei der Fenster, die sich spiralförmig den Rundturm hinaufwanden, und das Erkerfenster ganz oben sehen, dessen viele Farben in der Frühlingssonne glitzerten, wobei die schwarze Mitte ihn durchs Fernglas hindurch wie das verkörperte Auge des Flitzerdunkels zu betrachten schien.
Patrick trompetete wieder und streckte die Hand nach dem Fernglas aus. Er wollte den Turm selbst sehen, und Roland überließ ihm das Fernglas widerspruchslos. Er fühlte sich leicht schwindelig, wie nicht ganz da. Dann fiel ihm ein, dass er sich in den Wochen vor seinem Zweikampf mit Cort manchmal ganz ähnlich gefühlt hatte: als wäre er ein Traum oder ein Mondstrahl. Damals hatte er gespürt, dass eine große Veränderung bevorstand, und so war ihm auch jetzt zumute.
Dort ist’s, dachte er. Dort ist mein Schicksal, das Ende meines Lebensweges. Und trotzdem schlägt mein Herz noch (etwas schneller als zuvor, gewisslich wahr), mein Blut kreist weiter in den Adern, und wenn ich mich vornüberbeuge, um die Griffe dieses vermaledeiten Karrens zu fassen, wird mein Rücken ächzen, und ich werde vielleicht einen kleinen Furz lassen. Nichts, gar nichts hat sich verändert.
Er wartete auf die Enttäuschung, die diesem Gedanken folgen musste – die Niedergeschlagenheit. Aber sie blieb aus. Stattdessen empfand er eine merkwürdige, sich verstärkende Losgelöstheit, die im Kopf zu beginnen und dann jeden Muskel seines Körpers zu erfassen schien. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch am Vormittag musste er nicht mehr an Oy und Susannah denken. Er fühlte sich frei.
Patrick ließ das Fernglas sinken. Als er sich jetzt Roland zuwandte, war er sichtlich aufgeregt. Er deutete auf das schwarze Gebilde am Horizont.
»Ja«, sagte Roland. »Eines Tages wird irgendeine Version von dir ihn in irgendeiner Welt malen – und Llamrei, Arthur Elds Streitross, dazu. Das weiß ich, weil ich den Beweis dafür gesehen habe. Im Augenblick ist er unser Ziel, das wir erreichen müssen.«
Patrick trompetete wieder, dann machte er ein langes Gesicht. Er hielt sich die Schläfen mit den Händen und wiegte den Kopf wie jemand vor und zurück, den schreckliche Kopfschmerzen plagten.
»Ja«, sagte Roland. »Ich habe auch Angst. Aber das lässt sich nicht ändern. Ich muss dorthin. Möchtest du hier bleiben, Patrick? Hier bleiben und auf mich warten? Wenn du das willst, erlaube ich’s dir.«
Patrick schüttelte sofort den Kopf. Und für den Fall, dass Roland ihn nicht verstand, fasste der stumme Junge ihn am Arm. Seine rechte Hand – die Hand, mit der er zeichnete – packte wie ein Schraubstock zu.
Roland nickte. Versuchte sogar zu lächeln. »Ja«, sagte er, »das ist in Ordnung. Bleib bei mir, solange du willst. Du sollst nur wissen, dass ich zuletzt allein weitergehen muss.«
3
Mit jeder Senke, aus der sie auftauchten, und jedem Hügel, den sie überschritten, schien der Dunkle Turm ihnen ein Stück entgegenzuspringen. Immer mehr der Fenster, die spiralförmig um seinen großen Umfang liefen, wurden sichtbar. Roland konnte zwei Stahlpfosten erkennen, die oben aus dem Turm ragten. Die Wolken, die den Pfaden der zwei noch intakten Balken folgten, schienen aus den Enden der Pfosten zu strömen und bildeten am Himmel ein großes X. Die Stimmen wurden lauter, und Roland erkannte, dass sie die Namen der Welt sangen. Die aller Welten. Er wusste nicht, woher er das wissen konnte, aber er war sich seiner Sache sicher. Die Losgelöstheit, die er empfand, verstärkte sich weiter. Als sie schließlich einen Hügelkamm erreichten, auf dem zu ihrer Linken riesige Steinmänner nach Norden davonmarschierten (die Überreste ihrer mit irgendeiner blutroten Masse
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