Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
er von etwas begleitet, was dem Revolvermann überaus gefiel, ihn auch etwas ermutigte. Es war ein Ausdruck heißer Begeisterung. Es war der Ausdruck, den Begabte trugen, wenn sie, nachdem sie sich jahrelang nur verschlafen im Alltagstrott bewegt hatten, endlich einen anspruchsvollen Auftrag erhielten, der alle ihre Fähigkeiten fordern und bis an die Grenzen beanspruchen würde, vielleicht sogar darüber hinaus.
Patrick wälzte sich wieder zu dem Fernglas hinüber, das er unter der Auskragung zurückgelassen hatte. Er sah lange hindurch, während die Stimmen in Rolands Kopf ihre gebieterische Aufforderung immer drängender wiederholten.
Und schließlich rollte er sich wieder weg, griff nach seinem Zeichenblock und fing damit an, das wichtigste Bild seines Lebens zu zeichnen.
7
Im Vergleich zu Patricks gewöhnlicher Methode – rasche Striche, aus denen binnen Minuten ein vollständiges, bezwingendes Bild entstand – ging die Arbeit diesmal langsam voran. Roland musste sich immer wieder beherrschen, um den Jungen nicht anzuschreien: Beeil dich! Beeil dich, um aller Götter willen! Siehst du nicht, dass ich Höllenqualen leide?
Aber Patrick sah das nicht, hätte sich ohnehin nicht darum gekümmert. Er ging ganz in seiner Arbeit auf, fühlte sich von einer bislang unbekannten Gier erfasst und machte nur gelegentlich eine Pause, um durchs Fernglas zu blicken und sein Sujet, die Gestalt in der roten Robe, ausgiebig zu betrachten. Manchmal hielt er den Bleistift schräg, um etwas zu schraffieren; dann wieder rieb er mit dem Daumen darüber, um eine Schattierung zu erzeugen. Manchmal verdrehte er die Augen so weit nach oben, dass nur noch das wächserne Weiß der Augäpfel zu sehen war. Man hätte glauben können, er begutachte irgendeine Version des Roten Königs, die leuchtend in seinem Gehirn stand. Und woher wollte Roland wissen, dass das nicht auch der Fall war?
Wie er es hinkriegt, ist mir einerlei. Er soll nur fertig werden, bevor ich durchdrehe und zu dem hinüberspurte, was der Alte Rote König so überaus richtig als meinen »Schatz« bezeichnet hat.
Auf diese Weise verging eine halbe Stunde, die mindestens drei Tage zu dauern schien. Einmal wandte der Scharlachrote König sich noch verlockender an Roland und fragte ihn, ob er nicht doch zum Turm kommen und palavern wolle. Wenn Roland ihn aus seinem Balkongefängnis befreie, so schlug er vor, könnten sie beide vielleicht das Kriegsbeil begraben, um dann im selben Geist der Freundschaft gemeinsam den Turm zu besteigen. Das sei schließlich nicht ganz unmöglich. Bei Unwetter fänden sich in Gasthöfen seltsame Bettgefährten – ob Roland dieses Sprichwort noch nie gehört habe?
Der Revolvermann kannte dieses Sprichwort recht gut. Er wusste jedoch auch, dass das Angebot des Roten Königs im Prinzip derselbe unaufrichtige Vorschlag wie zuvor war – nur diesmal stattlich herausgeputzt. Aber diesmal hörte er auch einen besorgten Unterton aus der Stimme des alten Ungeheuers heraus. Roland vergeudete keine Kraft damit, ihm zu antworten.
Als der Scharlachrote König begriff, dass sein Zureden wirkungslos geblieben war, warf er einen weiteren Schnaatz. Dieser überflog die Pyramide in solcher Höhe, dass er nur noch als Lichtpunkt zu sehen war, und stürzte sich dann mit dem anschwellenden Heulen einer fallenden Bombe auf sie. Roland erledigte ihn mit einem einzigen Schuss und lud aus einem reichlichen Munitionsvorrat nach. Er wünschte sich sogar, dass der König nun weitere dieser fliegenden Grenados gegen ihn einsetzte, weil die ihn zumindest zeitweise von dem schrecklich verlockenden Ruf des Turms ablenkten.
Er hat auf mich gewartet, dachte er verzweifelt. Deswegen ist sein Ruf wohl auch so unwiderstehlich – er gilt ganz speziell mir. Im Grunde genommen allerdings nicht mir als Roland, sondern der gesamten Linie des Eld … und von allen Nachkommen bin ich der einzige Überlebende.
8
Als die untergehende Sonne die ersten Orangetöne anzunehmen begann und Roland das Gefühl hatte, die Qualen nun wirklich nicht länger ertragen zu können, legte Patrick den Bleistift beiseite und hielt Roland stirnrunzelnd den Zeichenblock hin. Dieser Gesichtsausdruck ängstigte Roland. Er hatte bisher nicht einmal gewusst dass er zum Repertoire des stummen Jungen gehörte. Patricks frühere Arroganz war verschwunden.
Roland nahm den Zeichenblock jedoch entgegen und war von dem, was er sah, im ersten Moment so verblüfft, dass er den Blick
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