Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Sie flogen zum Dunklen Turm, und Roland erhob sich, um ihnen zu folgen, weil er ihnen nicht gönnte, was er selbst nicht haben konnte.
Patrick bekam seinen Ledermantel zu fassen und zog ihn daran zurück. Der Junge schüttelte heftig den Kopf und zeigte diesmal auf die Straße.
»DAS HABE ICH GESEHEN, ROLAND!«, erklang der Schrei. »WAS FÜR DIE VÖGEL GUT GENUG IST, IST AUCH FÜR DICH GUT GENUG, GLAUBST DU, NICHT WAHR? IIIIIIIII! UND DAS STIMMT AUCH, SICHER! SICHER WIE ZUCKER, SICHER WIE SALZ, SICHER WIE DIE RUBINE IN KÖNIG DANDOS SCHATZKAMMER – IIIIIIII, HA! ICH HÄTTE DICH EBEN UMLEGEN KÖNNEN, ABER WOZU SOLLTE ICH MIR DIE MÜHE MACHEN? ICH GLAUBE, ICH WILL LIEBER SEHEN, WIE DU ZUM TURM KOMMST – PISSEND UND ZITTERND UND AUSSERSTANDE, DICH SELBST DARAN ZU HINDERN!«
Das werde ich, dachte Roland. Ich werde mich nicht dagegen wehren können. Vielleicht halte ich noch weitere zehn Minuten aus, vielleicht sogar noch zwanzig, aber letzten Endes …
Patrick unterbrach seinen Gedankengang, indem er nochmals auf die Straße zeigte. In die Richtung wies, aus der sie gekommen waren.
Roland schüttelte müde den Kopf. »Selbst wenn ich der Anziehungskraft des Ungeheuers widerstehen könnte – und das könnte ich nicht, ich kann nur mit knapper Not hier verharren –, würde ein Rückzug uns nichts nutzen. Sobald wir nicht mehr in Deckung sind, setzt er ein, was er bisher zurückgehalten hat. Er hat irgendwas in der Hinterhand, dessen bin ich mir sicher. Und was es auch sein mag, es ist wahrscheinlich gegen die Kugeln meines Revolvers gefeit.«
Patrick schüttelte so heftig den Kopf, dass sein langes Haar von einer Seite zur anderen flog. Der Griff, mit dem er Rolands Arm gepackt hielt, verstärkte sich, bis die Fingernägel des Jungen sich selbst durch drei Lederschichten hindurch ins Fleisch des Revolvermanns bohrten. Seine Augen, sonst immer sanft und meistens leicht verwirrt, starrten Roland fast wütend an. Er deutete nochmals mit der freien Hand – drei rasche, zustoßende Bewegungen mit einem schmutzigen Zeigefinger. Aber nicht auf die Straße.
Patrick zeigte auf die Rosen.
»Was ist mit ihnen?«, fragte Roland. »Patrick, was ist mit ihnen?«
Diesmal zeigte Patrick auf die Rosen, dann auf die Augen des Porträtierten.
Und diesmal verstand Roland.
9
Patrick wollte sie nicht holen. Als Roland ihn mit einer Handbewegung dazu aufforderte, schüttelte der Junge sofort mit erschrocken aufgerissenen Augen den Kopf, dass seine Haare wieder flogen. Dabei machte er zwischen den Zähnen ein pfeifendes Geräusch, das eine bemerkenswert gute Imitation eines anfliegenden Schnaatzes war.
»Ich schieße alles ab, was er einsetzt«, sagte Roland. »Du hast gesehen, dass ich das kann. Wenn eine nahe genug wäre, dass ich sie selbst pflücken könnte, würde ich das auch tun. Aber das ist leider nicht der Fall. Also musst du die Rose pflücken, und ich gebe dir dabei Feuerschutz.«
Aber Patrick duckte sich nur ängstlich gegen die zerklüftete Seite der Pyramide. Patrick wollte nicht. Seine Angst war vielleicht nicht so groß wie sein Talent, aber der Unterschied konnte nicht allzu bedeutend sein. Roland schätzte die Entfernung zur nächsten Rose ab. Sie stand außerhalb ihrer kümmerlichen Deckung, aber vielleicht nicht allzu weit entfernt. Er betrachtete seine verkrüppelte Rechte, die das Pflücken würde besorgen müssen, und fragte sich, wie schwierig das wohl sein würde. Tatsache war natürlich, dass er das nicht wusste. Hier handelte es sich nicht um gewöhnliche Rosen. Womöglich enthielten die Dornen, mit denen ihr Stiel besetzt war, ein Gift, von dem er augenblicks gelähmt und als leichtes Ziel ins Gras sinken würde.
Aber Patrick wollte nicht. Patrick wusste, dass Roland einst Freunde gehabt hatte, die nun alle tot waren, und Patrick wollte nicht. Hätte Roland zwei Stunden Zeit gehabt, um den Jungen zu beknien – möglicherweise auch nur eine Stunde –, hätte dieser seine schreckliche Angst vielleicht überwinden können. Aber so viel Zeit blieb ihm nicht. Der Sonnenuntergang stand bevor.
Außerdem ist sie nahe. Ich kann’s schaffen, wenn es nicht anders geht … und ich muss.
Das Wetter war so warm geworden, dass sie die plumpen Fausthandschuhe aus Hirschleder, die Susannah ihnen genäht hatte, eigentlich nicht mehr brauchten, aber Roland hatte seine am Morgen noch getragen, weshalb sie jetzt in seinem Gürtel steckten. Er zog einen heraus und schnitt den Fingerteil ab, damit seine
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