Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
abwandte, als könnten ihn sogar die Augen auf Patricks Zeichnung hypnotisieren; könnten ihn vielleicht dazu zwingen, sich den Revolver an die Schläfe zu setzen und sich eine Kugel durch das schmerzende Gehirn zu jagen. So lebensecht war dieses Porträt. Das gierige, fragende Gesicht war länglich, Wangen und Stirn von Falten durchzogen, die so tief waren, dass sie bodenlos erschienen. Die von dem wallenden Bart umgebenen Lippen waren voll und grausam. Es war der Mund eines Mannes, der einen Kuss in einen Biss verwandeln würde, wenn ihn der Geist ankam, und der Geist würde ihn oft ankommen.
»WAS GLAUBST DU, DAMIT ERREICHEN ZU KÖNNEN?«, kreischte der Wahnsinnige. »WAS ES AUCH SEIN MAG, ES WIRD DIR NICHTS NUTZEN! ICH HALTE DEN TURM BESETZT – IIIIIIII! – ICH BIN WIE DER HUND, DER DIE TRAUBEN BEWACHT, ROLAND! DER TURM IST MEIN, AUCH WENN ICH IHN NICHT ERSTEIGEN KANN! UND DU WIRST KOMMEN! IIIII! GEWISSLICH WAHR! BEVOR DER SCHATTEN DES TURMS DEIN KÜMMERLICHES VERSTECK ERREICHT, WIRST DU KOMMEN! IIIIIIII! IIIIIIII! IIIIIIII! «
Patrick fuhr zusammen und hielt sich die Augen zu. Da er nun mit seiner Zeichnung fertig war, hörte er auch diese grässlichen Schreie wieder.
Dass dieses Porträt das größte Werk war, das Patrick jemals schaffen würde, stand für Roland völlig außer Zweifel. Als Reaktion auf seine Herausforderung war der Junge nicht nur über sich hinausgewachsen; er war über sich selbst hinausgewachsen und hatte Geniales vollbracht. In seiner Klarheit wirkte das Porträt des Scharlachroten Königs geradezu quälend. Der Weit-Seher reicht als Erklärung dafür nicht aus, jedenfalls nicht ganz, dachte Roland. Man könnte glauben, er besäße ein drittes Auge, das seiner Vorstellungskraft dient und alles sieht. Dieses Auge benutzt er, wenn er die beiden anderen verdreht. Solche Fähigkeiten zu besitzen … und sie mit einem so bescheidenen Werkzeug wie einem Bleistift auszudrücken! Ihr Götter!
Er erwartete fast, den Puls in den hohlen Schläfen des alten Mannes schlagen zu sehen, wo ein ganzes Netzwerk von Adern durch einige wenige zarte, federleichte Schattierungen dargestellt war. In einem Winkel des Mundes mit den vollen, sinnlichen Lippen konnte der Revolvermann einen einzelnen scharfen Zahn
(Stoßzahn)
blinken sehen und glaubte, die Lippen des Porträtierten konnten zum Leben erwachen, während er sie ansah, sich teilen und einen Mund voller Reißzähne enthüllen: ein bloßes weißes Aufblitzen (das schließlich nur ein ausgespartes Eckchen Papier war) ließ die Phantasie des Betrachters alles Übrige sehen und sogar den üblen Fäulnisgeruch wahrnehmen, der jedes Ausatmen begleiten würde. Auch das Haarbüschel, das sich aus einem Nasenloch des Königs kräuselte, und die dünne Linie einer gezackten Narbe, die sich wie ein Faden durch die rechte Augenbraue schlängelte, hatte Patrick perfekt dargestellt. Dies war eine wundervolle Arbeit, weit besser als das Porträt, das der stumme Junge von Susannah gezeichnet hatte. Und wie Patrick von jenem anderen Bild hatte ein Geschwür wegradieren können, würde er auf diesem bestimmt den Scharlachroten König ausradieren und nichts als das Balkongeländer vor ihm und die geschlossene Tür zum Rundbau des Turms hinter ihm zurücklassen können. Roland erwartete beinahe, den Scharlachroten König atmen und sich bewegen zu sehen, also war es bestimmt geschafft! Bestimmt …
Aber das war es nicht. Es genügte nicht, und selbst, dass er es wollte, machte es nicht ausreichend. Nicht einmal, dass er es brauchte, ließ es genügen.
Es liegt an den Augen, dachte Roland. Sie waren groß und schrecklich, die Augen eines Drachen in Menschengestalt. Sie waren trefflich dargestellt, aber sie waren nicht richtig. Roland empfand eine Art verzweifelter, elender Gewissheit und erschauderte von Kopf bis Fuß, heftig genug, um seine Zähne klappern zu lassen. Sie sind nicht ganz r …
Patrick fasste Roland am Ellbogen. Der Revolvermann hatte sich so verbissen auf die Zeichnung konzentriert, dass er bei dieser Berührung fast aufschrie. Jetzt hob er den Kopf. Patrick nickte ihm zu, dann berührte er mit zwei Fingern die inneren Winkel der eigenen Augen.
Ja. Seine Augen. Das weiß ich! Aber was ist falsch an ihnen?
Patrick berührte noch immer seine Augenwinkel. Über ihnen flogen Häher in einem ungeordneten Schwarm durch den Himmel, der bald mehr purpurrot als blau sein würde, und stießen dabei die heiseren Schreie aus, denen sie ihren Namen verdankten.
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