Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Finger baumelte kraftlos herab. Aber Patricks Hand wurde nicht zerschnitten. Die Dornen ritzten ihn nicht einmal. Und zudem war das Entsetzen nun aus seinen Augen gewichen. Sein Blick fiel auf die Zeichnung und wechselte dann mit liebevoller Berechnung zwischen Rose und Porträt hin und her.
»ROLAND! WAS MACHST DU? KOMM, REVOLVERMANN, DENN DER SONNENUNTERGANG NAHT!«
O ja, er würde kommen. So oder so. Dieses Bewusstsein erleichterte ihn etwas, machte es ihm möglich, an seinem Platz zu verharren, ohne allzu schlimm zu zittern. Seine Rechte war inzwischen bis zum Handgelenk hinauf gefühllos, und Roland vermutete, dass er sie nie mehr wieder würde spüren können. Aber das war in Ordnung; seit die Monsterhummer sie verstümmelt hatten, war sie ohnehin nicht mehr viel wert gewesen.
Und die Rose sang: Doch, Roland, doch – du bekommst sie zurück. Du wirst wieder ganz. Es wird eine Wiedergeburt geben. Du musst nur kommen.
Patrick zupfte ein Blütenblatt der Rose ab, betrachtete es prüfend und zupfte dann ein zweites ab. Er steckte beide in den Mund. Für einen Augenblick wurde sein Gesicht wie von einer eigenartigen Ekstase schlaff. Roland fragte sich, wie die Blütenblätter wohl schmecken mochten. Der Himmel über ihnen wurde dunkler. Der Schatten der Pyramide, die unter den Steinen verborgen gewesen war, erstreckte sich nun fast bis zur Straße. Sobald die Schattenspitze die Straße, auf der sie angekommen waren, erreichte, würde Roland vermutlich losgehen – unabhängig davon, ob der Scharlachrote König das Vorfeld des Turms weiter beherrschte oder nicht.
»WAS MACHT ER? IIIIIIIII! WELCHE TEUFELEI WIRKT IN DEINEM KOPF UND IN DEINEM HERZEN?«
Du bist mir gerade der Richtige, um von Teufelei zu sprechen, dachte Roland. Er zog seine Taschenuhr heraus und ließ den Deckel aufspringen. Unter dem Saphirglas rasten die Zeiger jetzt rückwärts, von fünf zu vier Uhr, vier zu drei, drei zu zwei, zwei zu eins und eins zu Mitternacht.
»Patrick, beeil dich«, sagte er. »So schnell du kannst, ich bitte dich, meine Zeit ist fast abgelaufen.«
Der Junge hielt sich die hohle Hand unter den Mund und spuckte eine rote Paste von der Farbe frischen Bluts hinein. Die Farbe der Robe des Scharlachroten Königs. Und auch genau die Farbe der Augen des Wahnsinnigen.
Patrick, der im Begriff stand, erstmals in seinem Künstlerleben mit Farbe zu arbeiten, wollte die Spitze des rechten Zeigefingers schon in die Paste tunken, zögerte dann aber. Dabei überkam Roland eine seltsame Gewissheit: Die Dornen dieser Rosen stachen nur, solange die Pflanze noch durch ihre Wurzeln mit Mim, der Urmutter Erde, verbunden war. Wäre es ihm gelungen, Patrick loszuschicken, damit dieser die Rose holte, hätte Mim diese begnadeten Hände zerschnitten und unbrauchbar gemacht.
Das Ka ist weiterhin am Werk, dachte der Revolvermann. Selbst hier draußen in Endw …
Bevor er diesen Gedanken abschließen konnte, ergriff Patrick die rechte Hand des Revolvermanns und starrte mit der Intensität eines Wahrsagers hinein. Er tauchte eine Fingerspitze in das dort fließende Blut und vermischte es mit seiner Rosenpaste. Dann nahm er vorsichtig eine ganz kleine Menge davon auf den rechten Zeigefinger. Er senkte ihn über die Zeichnung … verharrte … sah zu Roland hinüber. Der Revolvermann nickte ihm zu, und Patrick erwiderte sein Nicken mit dem Ernst eines Chirurgen, der vor dem ersten Schnitt einer riskanten Operation stand, und berührte dann mit dem Finger das Papier. Die Fingerspitze tupfte so leicht darauf, wie der Schnabel eines Kolibris in einen Blütenkelch tauchte. Das linke Auge des Scharlachroten Königs wurde also koloriert, dann ging der Finger wieder hoch. Patrick hielt den Kopf leicht schräg und begutachtete sein Werk mit einer Faszination, die Roland in seinem gesamten langen Wanderleben noch auf keinem menschlichen Gesicht gesehen hatte. Es war, als wäre der Junge irgendein Manni-Prophet, dem nach zwanzigjährigem Ausharren in der Wüste endlich ein Blick auf das Antlitz von Gan gegönnt worden war.
Dann brach er in ein sonniges, strahlendes Lächeln aus.
Die Antwort vom Dunklen Turm kam rascher und war – zumindest für Roland – unendlich befriedigend. Das auf dem Balkon gefangene alte Geschöpf heulte vor Schmerzen auf.
»WAS MACHT IHR? IIIIIII! IIIIIIII! AUFHÖREN! DAS BRENNT! BRRRRENNT! IIIIIIIIIIIIIIIIIIII !«
»Jetzt noch das andere«, sagte Roland. »Schnell! Um deines und meines Lebens willen!«
Patrick kolorierte
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