Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
er hatte die Wasserschläuche aus Tierhaut geschultert und war ohne ein Wort davongeschritten. Eddie fand das auf eigentümliche Weise taktvoll. Er wollte sich von dieser Geste nicht rühren lassen – von nichts, was Roland tat – und stellte fest, daß er es dennoch war.
Sie hörte Eddie aufmerksam zu und sagte nichts, ihr Blick hing an ihm. Einmal schätzte Roland, daß sie fünf Jahre älter war als er, im nächsten Augenblick fünfzehn. Bei einem aber stand er über allen Vermutungen: Er war dabei, sich in sie zu verlieben.
Als er fertig war, saß sie einen Augenblick da und sagte gar nichts, und jetzt sah sie ihn nicht an, sondern an ihm vorbei, sah zu den Wellen, denen nach Einbruch der Nacht die Hummer mit ihren fremden, anwaltsmäßigen Fragen entsteigen würden. Sie hatte er ganz besonders sorgfältig beschrieben. Es war besser für sie, wenn sie jetzt ein wenig Angst hatte, als später, wenn sie zum Spielen herauskamen, viel Angst. Er vermutete, sie würde sie nicht essen wollen, nachdem sie erfahren hatte, was sie mit Rolands Hand und Fuß gemacht hatten und nachdem sie sie genau angesehen hatte. Aber letztlich würde der Hunger über did-a-chick und dum-a-chum siegen.
Ihre Augen waren distanziert und verträumt.
»Odetta?« fragte er, nachdem vielleicht fünf Minuten verstrichen waren. Sie hatte ihm ihren Namen gesagt. Odetta Holmes. Er fand, das war ein toller Name.
Sie sah ihn, aus ihrem Nachdenken aufgeschreckt, an. Sie lächelte ein wenig. Sie sagte ein Wort.
»Nein.«
Er sah sie nur an, und ihm fiel keine passende Antwort ein. Er dachte, daß er bis zu diesem Augenblick gar nicht gewußt hatte, wie umfassend eine simple Verneinung sein konnte.
»Ich verstehe nicht«, sagte er schließlich. »Was verneinst du?«
»Dies alles.« Odetta schwang einen Arm (sie hatte, wie ihm aufgefallen war, sehr kräftige Arme – glatt, aber sehr kräftig), deutete auf das Meer, den Himmel, den Strand, die bewaldeten Vorgebirge, wo der Revolvermann momentan wahrscheinlich nach Wasser suchte (oder möglicherweise von einem neuen und interessanten Monster bei lebendigem Leib verspeist wurde, ein Gedanke, den Eddie lieber gar nicht denken wollte), deutete, kurz gesagt, auf die ganze Welt.
»Ich weiß, wie dir zumute ist. Ich hatte anfangs auch ein ordentliches Gefühl des Unwirklichen.«
Aber hatte er das gehabt? Zurückblickend schien es ihm, als hätte er es einfach akzeptiert, möglicherweise weil er krank gewesen war und sich vor Verlangen nach einem Schuß geschüttelt hatte.
»Du wirst darüber hinwegkommen.«
»Nein«, sagte sie wieder. »Ich glaube, es ist eine von zwei Möglichkeiten eingetreten, und welche es auch sein mag, ich bin immer noch in Oxford, Mississippi. Dies alles ist nicht wirklich.«
Sie sprach weiter. Wäre ihre Stimme lauter (oder er nicht verliebt) gewesen, hätte es fast eine Moralpredigt sein können. Aber so hörte es sich mehr wie Poesie denn wie eine Moralpredigt an.
Davon abgesehen, mußte er sich vergegenwärtigen, daß alles Bockmist ist, und davon mußt du sie überzeugen. Ihretwegen.
»Ich habe vielleicht eine Kopfverletzung abbekommen«, sagte sie. »In Oxford Town haben sie berüchtigte Axtstiel- und Keulenschwinger.«
Oxford Town.
Das löste einen leisen Akkord des Erkennens ganz hinten in Eddies Verstand aus. Sie sprach die Worte mit einem Rhythmus aus, den er aus irgendwelchen Gründen mit Henry assoziierte… mit Henry und nassen Windeln. Warum? Was? War jetzt einerlei.
»Du willst mir erzählen, du hältst das alles hier für eine Art Traum, den du hast, während du bewußtlos bist?«
»Oder im Koma«, sagte sie. »Und du solltest mich nicht ansehen, als hieltest du das für lächerlich, das ist es nämlich nicht. Schau her.«
Sie teilte das Haar sorgfältig auf der linken Seite, und Eddie sah, daß sie es nicht nur seitlich gescheitelt hatte, weil ihr das gefiel. Die alte Verletzung unter dem seitlichen Haarschopf war vernarbt und häßlich, nicht braun, sondern grauweiß.
»Schätze, du hast zu deiner Zeit ‘ne Menge Pech gehabt«, sagte er.
Sie zuckte ungeduldig die Schultern. »Eine Menge Pech und eine Menge angenehmes Leben«, sagte sie. »Vielleicht gleicht sich alles aus. Ich habe dir das nur gezeigt, weil ich mit fünf Jahren schon einmal drei Wochen im Koma lag. Damals habe ich eine Menge geträumt. Ich kann mich nicht an die Träume erinnern, aber ich erinnere mich, meine Mama hat gesagt, sie wußte, daß ich nicht sterben würde, solange ich
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