Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
gehorchen.«
Ein kleiner Schwarm Vögel kam auf sie zu. Als sie den Verlauf des Balkens erreichten, wurden sie alle einen Augenblick Richtung Südosten abgelenkt. Obwohl Eddie deutlich sah, daß es so war, konnten seine Augen es kaum glauben. Als die Vögel den schmalen Einflußbereich des Balkens durchquert hatten, setzten sie ihren alten Kurs fort.
»Nun«, sagte Eddie, »ich denke, wir sollten uns auf den Weg machen. Eine Reise von tausend Meilen fängt mit einem einzigen Schritt an, oder so eine Scheiße.«
»Moment noch«, sagte Susannah, die Roland ansah. »Es sind nicht nur tausend Meilen, oder? Von was für einer Strecke sprechen wir denn, Roland? Fünftausend Meilen? Zehn?«
»Kann ich nicht sagen. Es wird sehr weit sein.«
»Und wie um Himmels willen sollen wir jemals dorthin kommen, wenn ihr beide mich im Rollstuhl schieben müßt? Wir können froh sein, wenn wir drei Meilen täglich durch jene Drawers schaffen, wie du sehr gut weißt.«
»Der Weg ist geebnet«, sagte Roland geduldig, »und das ist vorerst genug. Vielleicht kommt die Zeit, Susannah Dean, da wir schneller reisen, als dir lieb ist.«
»Ach ja?« Sie sah ihn trotzig an, und beide Männer konnten Detta Walker sehen, die wieder einen gefährlichen Tanz hinter ihren Augen aufführte. »Hast du deinen Rennwagen startklar? Wenn ja, wäre es nicht übel, wenn wir eine Scheißstraße zum Fahren hätten!«
»Das Land und die Wege, auf denen wir reisen, werden sich verändern. Das ist immer so.«
Susannah winkte mit einer Hand in Richtung Revolvermann; nur weiter so, sollte das heißen. »Du hörst dich an wie meine Mama, wenn sie gesagt hat, Gott wird’s schon fügen.«
»Hat er das nicht?« fragte Roland ernst.
Sie sah ihn einen Augenblick voll stummer Überraschung an, dann warf sie den Kopf zurück und lachte zum Himmel hinauf. »Nun, ich schätze, das kommt ganz drauf an, wie man es sieht. Ich kann nur sagen, Roland, wenn Er uns versorgt, dann will ich nicht wissen, was passiert, wenn Er beschließt, uns hungern zu lassen.«
»Kommt schon, bringen wir es hinter uns«, sagte Eddie. »Ich will von hier weg. Gefällt mir hier nicht.« Das stimmte, aber es war nicht der einzige Grund. Er verspürte auch den unwiderstehlichen Drang, die Füße auf diesen verborgenen Pfad zu setzen, diesen versteckten Highway. Jeder Schritt war ein Schritt auf das Feld der Rosen zu, und den Turm, der darüber aufragte. Ihm wurde – mit nicht geringem Staunen – bewußt, daß er den Turm sehen oder beim Versuch sterben würde.
Glückwunsch, Roland, dachte er. Du hast es geschafft. Ich bin bekehrt. Jemand sollte ein Halleluja singen.
»Noch etwas, bevor wir gehen.« Roland bückte sich und löste den Wildlederfaden um den linken Oberschenkel. Dann knöpfte er langsam den Revolvergurt auf.
»Was soll das denn?« fragte Eddie.
Roland löste den Revolvergurt und hielt ihn Eddie hin. »Du weißt, warum ich das mache«, sagte er ruhig.
»Zieh ihn wieder an, Mann!« Eddie verspürte ein schreckliches Durcheinander widerstreitender Emotionen, das in ihm kochte; er konnte spüren, wie seine Finger trotz der geballten Fäuste zitterten. »Was denkst du dir eigentlich?«
»Ich verliere Stück für Stück den Verstand. Bis die Wunde in meinem Inneren geschlossen ist – wenn überhaupt –, kann ich den nicht tragen. Das weißt du.«
»Nimm ihn, Eddie«, sagte Susannah leise.
»Wenn du das verdammte Ding gestern abend nicht getragen hättest, als das Fledermausding auf mich losgegangen ist, wäre ich heute morgen von der Nase aufwärts nicht mehr da!«
Die Antwort des Revolvermanns bestand darin, daß er Eddie auch weiter seine zweite Waffe entgegenhielt. Seine Körperhaltung drückte aus, daß er bereit war, den ganzen Tag so zu stehen, sollte dies erforderlich sein.
»Na gut!« schrie Eddie. »Na gut, verdammt!«
Er riß Roland den Revolvergurt aus der Hand und knöpfte ihn mit einer Reihe eckiger Bewegungen um die eigene Taille. Er überlegte sich, daß er Erleichterung empfinden sollte – hatte er nicht selbst die Waffe angesehen, die mitten in der Nacht so dicht neben Rolands Hand lag, und sich besorgt gefragt, was passieren würde, sollte Roland wirklich einen Sprung in der Schüssel bekommen? Hatten er und Susannah nicht beide darüber nachgedacht? Aber er empfand keine Erleichterung. Nur Angst und Schuldgefühle und eine seltsame, quälende Traurigkeit, zu tief für Tränen.
Ohne seine Waffen sah Roland so nackt aus.
So unvollständig.
»Okay?
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