Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
vollendet hatte, veränderte sich das Bild. Der Kreis, den er in die regennasse Erde gemalt hatte, wurde noch dunkler… bohrte sich aus dem Boden heraus und wurde zu einem dunklen, glänzenden Knauf. Und anstelle brauner, feuchter Erde in dem Schlüsselloch konnte er ein schwaches Licht erkennen.
Hinter ihm keifte Susannah erneut und feuerte den Dämon an, aber jetzt hörte sie sich an, als würde sie müde werden. Es mußte durchgezogen werden, und zwar schnell.
Eddie beugte sich in der Hüfte nach vorne wie ein Moslem, der Allah anbetet, und hielt das Auge über das Schlüsselloch, das er gezeichnet hatte. Er sah in seine eigene Welt, in das Haus, das er und Henry im Mai 1977 besucht hatten, ohne zu bemerken (nur hatte er, Eddie, es doch bemerkt; schon damals war er nicht völlig ahnungslos gewesen), daß ihnen ein Junge aus einem anderen Stadtteil gefolgt war.
Er sah einen Flur. Jake kauerte auf Händen und Knien und zerrte panisch an einem Dielenbrett. Etwas war hinter ihm her. Eddie konnte es sehen und doch wieder nicht – es war, als würde ein Teil seines Gehirns sich weigern zu sehen, als würde das Sehen zu Verstehen und das Verstehen zu Wahnsinn führen.
»Beeil dich, Jake!« rief er in das Schlüsselloch. »Beweg dich, um Gottes willen!«
Über dem sprechendem Ring grollte Donner am Himmel wie Kanonenfeuer, und der Regen wurde zu Hagel.
32
Nachdem der Schlüssel gefallen war, stand Jake einen Moment nur reglos da und betrachtete die schmale Fuge zwischen den Dielenbrettern.
Unglaublich, aber er war müde.
Das hätte nicht passieren dürfen, dachte er. Es war einfach zuviel. Ich kann nicht mehr, keine Minute, nicht einmal eine einzige Sekunde länger. Ich werde mich vor dieser Tür hinlegen. Ich werde sofort einschlafen, und wenn es mich packt und ins Maul schiebt, werde ich nicht einmal aufwachen.
Dann grunzte das Ding, das aus der Wand kam, und als Jake aufsah, verschwand sein Wunsch, alles aufzugeben, mit einem einzigen Anflug von Grauen. Inzwischen hatte es sich ganz aus der Wand befreit, ein riesiger Mörtelkopf mit einem Holzauge und einer greifenden Hand. Lattensplitter standen wahllos von dem Kopf ab, als hätte ein Kind Haare gemalt. Als er Jake sah, machte er den Mund auf und entblößte unebenmäßige Holzzähne. Er grunzte erneut. Mörtelstaub quoll aus dem klaffenden Maul wie Zigarrenrauch.
Jake ließ sich auf die Knie fallen und sah in den Riß. Der Schlüssel war ein schwaches silbernes Glimmern in der Dunkelheit da unten, aber die Fuge war so schmal, daß er unmöglich mit den Fingern hineingreifen konnte. Er packte eines der Dielenbretter und zerrte mit aller Kraft daran. Die Nägel ächzten… aber sie hielten.
Ein klirrendes Krachen war zu hören. Er sah den Flur entlang und erblickte die Hand, größer als sein ganzer Körper, die den heruntergestürzten Lüster ergriff und beiseite warf. Die rostige Kette, die ihn einst gehalten hatte, schnellte wie eine Peitsche in die Höhe und sank mit einem lauten Klirren wieder herunter. Eine Lampe über Jake rasselte an einer rostigen Kette, staubiges Glas klirrte gegen uraltes Messing.
Der Kopf des Torwächters, der lediglich mit der einen buckligen Schulter und dem Arm verbunden war, glitt auf dem Boden weiter. Hinter ihm stürzten die Überreste der Mauer in einer Staubwolke ein. Einen Augenblick später formierten sich die Bruchstücke und wurden zum mißgestalteten, knochigen Rücken der Kreatur.
Der Türwächter erblickte Jake, der ihn ansah, und schien zu grinsen. Dabei bohrten sich Holzsplitter durch seine runzligen Wangen. Er schleppte sich weiter durch den staubigen Ballsaal und machte dabei den Mund auf und zu. Die große Hand tastete in den Ruinen, suchte nach Halt und riß einen Flügel der Schiebetür am Ende des Flurs aus der Schiene.
Jake schrie atemlos und zerrte erneut an dem Brett. Es rührte sich nicht, aber da ertönte die Stimme des Revolvermanns:
Der andere, Jake! Versuch es mit dem anderen!
Er ließ das Brett los, an dem er gezogen hatte, und packte das auf der anderen Seite der Fuge. Als er das tat, erklang eine zweite Stimme. Diese hörte er nicht mit dem Kopf, sondern mit den Ohren, und begriff, daß sie von der anderen Seite der Tür kam – der Tür, nach der er seit dem Tag gesucht hatte, als er nicht auf der Straße überfahren worden war.
»Beeil dich, Jake! Um Gottes willen, beeil dich!«
Als er an dem anderen Brett zog, löste sich dieses so mühelos, daß Jake fast nach hinten
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