Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Speisekammern und gewaltigen Säulen heraus angeglotzt hatten. Der warme, vom beißenden Geruch bratenden Rind- und Schweinefleisches erfüllte Dampf war der klammen Feuchtigkeit von Moos gewichen, und in den Ecken, wo nicht einmal die Langsamen Mutanten sich hinwagten, wuchsen riesige weiße Pilze. Die gewaltige Eichentür des Kellers stand offen, und von dort war der durchdringendste Geruch von allen gekommen, ein Geruch, der mit seiner platten Endgültigkeit sämtliche harten Tatsachen von Verfall und Auflösung zu symbolisieren schien: der ätzende, scharfe Geruch von Wein, der zu Essig geworden war. Es hatte keine Mühe gekostet, das Gesicht gen Süden zu wenden und das alles hinter sich zu lassen – aber es hatte ihm im Herzen weh getan.
»War Krieg?« fragte Jake.
»Noch besser«, sagte der Revolvermann und schnippte die letzte Glut seiner Zigarette fort. »Es war eine Revolution. Wir haben die Schlacht gewonnen und den Krieg verloren. Niemand hat den Krieg gewonnen, es sei denn die Plünderer. Es muß noch Jahre später reichlich zu holen gegeben haben.«
»Ich wünsche mir, ich hätte dort gelebt«, sagte Jake sehnsüchtig.
»Es war eine andere Welt«, sagte der Revolvermann. »Und jetzt ist Schlafenszeit.«
Der Junge, der nur noch ein dunkler Schatten war, drehte sich auf die Seite und kuschelte sich unter eine lose über ihn geworfene Decke. Der Revolvermann saß noch etwa eine Stunde Wache bei ihm und hing seinen langsamen, ernsten Gedanken nach. Dieses Meditieren war etwas Neues für ihn, etwas Ungewöhnliches, etwas auf eine melancholische Weise Angenehmes, aber dennoch völlig ohne praktischen Wert: Für Jakes Probleme gab es keine andere Lösung als die, welche das Orakel vorhergesagt hatte – und das war schlichtweg unmöglich. Die Situation mochte etwas Tragisches an sich haben, aber das sah der Revolvermann nicht; er sah nur die schicksalhafte Vorherbestimmung, die immerzu dagewesen war. Schließlich gewann sein natürlicherer Charakter wieder die Oberhand, und er schlief tief und traumlos.
5
Am folgenden Tag fiel das Klettern schwerer, während sie sich weiter auf das schmale V des Gebirgspasses zuarbeiteten. Der Revolvermann bewegte sich gemächlich, immer noch ohne Eile. Auf dem harten Gestein unter ihnen war keine Spur des Mannes in Schwarz zu sehen, aber der Revolvermann wußte, daß er vor ihnen diesen Weg genommen hatte – nicht nur aufgrund der Route seines Aufstiegs, als er und Jake ihn winzig und insektenähnlich vom Vorgebirge aus gesehen hatten. Sein Geruch wurde von jeder kalten Windbö heruntergetragen. Es war ein öliger, zynischer Geruch, der in seiner Nase so bitter schmeckte wie das Aroma des Teufelsgrases.
Jakes Haar war viel länger geworden und lockte sich am Halsansatz. Er kletterte verbissen und bewegte sich sicher und ohne erkennbare Höhenangst, wenn sie Klüfte überquerten oder sich ihren Weg an Felsüberhängen hinauf bahnten. Er war schon zweimal an Stellen hinaufgeklettert, die der Revolvermann nicht bezwingen konnte. Dort hatte Jake eines der Seile verankert, so daß sich der Revolvermann Hand für Hand hatte hochziehen können.
Am darauffolgenden Morgen kletterten sie durch eine kalte, klamm-feuchte Wolkenbank, die die Sicht auf die darunterliegenden Berghänge verbarg. In den tieferen Felsnischen lag fester, körniger Schnee. Er glitzerte wie Quartz, und seine Beschaffenheit war so trocken wie Sand. An diesem Nachmittag fanden sie einen einzigen Fußabdruck in einem der Schneeflecken. Jake betrachtete ihn einen Augenblick voll entsetzter Faszination, dann sah er auf, als rechnete er damit, den Mann in Schwarz selbst zu sehen, der in seinem eigenen Fußabdruck Gestalt annahm. Der Revolvermann tippte ihm auf die Schulter und deutete geradeaus. »Geh. Der Tag geht zu Ende.«
Später schlugen sie im letzten Tageslicht ihr Lager auf einem breiten, flachen Sims nordöstlich des Passes auf, der ins Herz des Gebirges hineinschnitt. Die Luft war eisig kalt; sie konnten die Wölkchen ihres Atems sehen, und das feuchte Donnergrollen im rotpurpurnen Abendrot war surrealistisch und ein wenig irrsinnig.
Der Revolvermann dachte, der Junge könnte anfangen, ihm Fragen zu stellen, aber Jake stellte keine Fragen. Der Junge schlief fast auf der Stelle ein. Der Revolvermann folgte seinem Beispiel. Er träumte wieder von dem dunklen Ort in der Erde, dem Kerker, und von Jake als Heiligenbild aus Alabaster mit einem Nagel durch die Stirn. Er erwachte stöhnend
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